VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 13.11.2018 - 1 K 318/18.TR - asyl.net: M26865
https://www.asyl.net/rsdb/M26865
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation, herausragende Stellung in Glaubensgemeinschaft als gefahrerhöhendes Merkmal:

1. Angehörigen der Zeugen Jehovas drohen im allgemeinen in der Russischen Föderation keine asylrelevanten Verfolungshandlungen aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit.

2. Eine besonders exponierte Stellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft, z.B. die des Gemeindeältesten, ist als gefahrerhöhend zu berücksichtigen, wobei auch eine Mehrzahl an Personen diese Position erreichen und parallel ausüben können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Zeugen Jehovas, Gruppenverfolgung, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Personengruppe, Religionsgemeinschaft, gefahrerhöhende Umstände, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Ihm droht im Falle seiner hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation zur Überzeugung des erkennenden Berichterstatters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch staatliche Stellen der Russischen Föderation wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas (nachfolgend a.). Dies beruht jedoch nicht auf einer sämtlichen Mitgliedern der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation drohenden Gefahr der Inhaftierung und strafrechtlichen Verurteilung, sondern auf einer besonderen Exponiertheit des Klägers innerhalb der Glaubensgemeinschaft aufgrund konkreter Umstände des individuellen Einzelfalls (nachfolgend b.). [...]

b. Dem Kläger droht nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln für den Fall seiner hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen seiner Religionszugehörigkeit in Gestalt einer Verhaftung, längerfristigen Inhaftierung oder strafrechtlichen Verurteilung durch die russischen Sicherheitsbehörden und Gerichte. Diese Gefährdungslage beruht jedoch auf der besonderen Exponiertheit des Klägers innerhalb der Glaubensorganisation und damit auf den besonderen Umständen des Einzelfalls. Demgegenüber ist eine systematische Verfolgung von Angehörigen der Zeugen Jehovas im Allgemeinen, die die flüchtlingsrechtlich erforderliche Intensitätsschwelle des § 3a Abs. 1 AsylG überschreitet, (noch) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellbar. [...]

bb. Aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ist (noch) nicht erkennbar, dass Angehörigen der Zeugen Jehovas allgemein im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation die Verhaftung, Inhaftierung oder strafrechtliche Verurteilung wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit drohen.

Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen lebten zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verbots der Glaubensgemeinschaft am 20.04.2017 etwa 170.000 Angehörige der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation (vgl. Washington Post, Is it a crime to worship God? According to Russia, yes, verfügbar unter: www.washingtonpost.com/opinions/is-it-a-crime-to-worship-god-according-to-russia-yes/2018/04/02/940a7c18-36b1-11 e8-acd5-35eac230e-514 story.html). Die Anzahl der durch die russischen Sicherheitsbehörden wegen ihrer Aktivitäten für die Glaubensgemeinschaft inhaftierten Mitglieder bewegt sich demgegenüber auch mehr als ein Jahr nach der Einstufung der Zeugen Jehovas als extremistische Organisation - abhängig von den in Anspruch genommenen Erkenntnismitteln - im zweistelligen Bereich.

- Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete am 28.06.2018 davon, dass aktuell 18 Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas in Haft befindlich seien (vgl. Human Rights Watch, Russia: Sweeping Arrests of Jehovah's Witnesses - Religious Persecution, Other Abuses, June 28th 2018, verfügbar unter: https://www.hrw.org/news/2018/06/28/russia-sweeping-arrests-jehovahs-witnesses

).- Am 16.07.2018 berichtete die New York Times unter Berufung auf die norwegische Nichtregierungsorganisation Forum 18 zwar von insgesamt 50 Strafverfahren, die gegen Angehörige der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation geführt würden, benannte aber keine konkrete Zahl Inhaftierter (vgl. The New York Times, Jehovah's Witnesses, Fleeing Russia Crackdown, Seek Shelter in Finland, verfügbar unter: www.nytimes.com/2018/07/16/world/europe/putin-trump-russia jehovahs-witness.html).

- Selbst die eigenen Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas in ihrem Internetauftritt gingen von einem Inhaftierten im Januar 2018 (vgl. Jehovas Zeugen, Zeugen Jehovas, die gegenwärtig wegen ihres Glaubens im Gefängnis sind - nach Ländern, Januar 2018, verfügbar unter: www.jw.org/de/aktuelle-meldungen/rechtlich/nach-regionen/weltweit/zeugen-jehovas-im-gefaengnis/), von fünf Inhaftierten am 02.05.2018 (vgl. Jehovas Zeugen, Russland beginnt systematisch gegen einzelne Zeugen Jehovas vorzugehen, 02.05.2018, verfügbar unter: https//www.jw.org/de/aktuelle-meldungen/rechtlich/nach-regionen/russland/russland-beginnt-systematisch-gegen-einzelne-zeugen-jehovas-vorzugehen/) und von 51 Inhaftierten Im Oktober 2018 aus (vgl. die durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gereichte Übersicht).

Bereits angesichts dieser im Verhältnis zur Gesamtzahl der praktizierenden Mitglieder verschwindend geringen Zahl Betroffener kann nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zu Lasten des Klägers im Falle der hypothetischen Rückkehr in die Russische Föderation ausgegangen werden.

cc. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich jedoch im Falle des Klägers aufgrund einer besonders exponierten Stellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft in einem nicht zu vernachlässigenden Maße, so dass letztlich aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls dennoch von einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungswahrscheinlichkeit auszugehen ist.

So handelt es sich erstens bei dem Kläger um einen Gemeindeältesten. Diesen Personen kommt aufgrund der hierarchischen Organisation der Glaubensgemeinschaft im Vergleich zu den einfachen Gläubigen innerhalb der Gemeinde eine herausgehobene Funktion zu. Es handelt sich um eine Position, die insbesondere auch die Vermittlung religiöser Inhalte, die persönliche Betreuung anderer Gemeindemitglieder und die Organisation von Missionierungen beinhaltet. Insoweit sind die Gemeindeältesten als sogenannte Multiplikatoren anzusehen, die eine Vorbildfunktion innerhalb der Gemeindestrukturen erfüllen und für das aktive Gemeindeleben sowie die Weitergabe religiöser Lehren von besonderer Bedeutung sind. Zwar kann nicht notwendigerweise davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Stellung als Gemeindeältester um ein Alleinstellungsmerkmal einer Person handelt. Insoweit hat sich in der mündlichen Verhandlung die Erkenntnis ergeben, dass auch durchaus eine Mehrzahl von Personen gleichzeitig innerhalb der Gemeinde diese Position erreichen und parallel ausüben können. Indes handelt es sich um einen Sonderrisikofaktor, der für den Fall der hypothetischen Rückkehr jedenfalls gefährdungserhöhend zu berücksichtigen ist.

Hinzu kommt im Falle des Klägers, dass er sich nach eigenem Bekunden durch die regelmäßige Organisation von Kongressen bzw. der Teilnahme an denselben weitergehend innerhalb der Glaubensorganisation exponiert hat. Dies wird auch durch die zur-Verwaltungsakte gereichten Lichtbilder bestätigt, die den Kläger in unmittelbarem persönlichen Kontakt zu dem bereits seit eineinhalb Jahren inhaftierten Gemeindeältesten ... zeigen, gegen den durch die russischen Behörden wegen verschiedener (glaubensbezogener) Straftaten ermittelt wird. Angesichts der Tatsache, dass besagter ... und der Kläger vergleichbare Positionen innerhalb ihrer Gemeinden bekleidet haben, die zudem auch in benachbarten Oblasten angesiedelt sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Zuge der Ermittlungen gegen besagten ... auch die Person des Klägers in den Fokus der Ermittlungsbehörden gelangen wird. Insoweit ist der Kläger nach Einschätzung des erkennenden Berichterstatters einem erweiterten regionalen Führungskreis der Glaubensgemeinschaft zuzuzählen, was sein Verfolgungsrisiko zusätzlich erkennbar erhöht. Schließlich kann aus dem zur Gerichtsakte gereichten Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 31.05.2017, das an den Kläger persönlich adressiert gewesen ist, auch geschlossen werden, dass den russischen Sicherheitsbehörden die Glaubenszugehörigkeit des Klägers und seine Stellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft bereits bekannt sind.

c. Die zu befürchtenden Maßnahmen knüpfen an den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund der Religion (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG) an und gehen von staatlichen Stellen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG aus. Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG ist nicht erkennbar, da unabhängig vom Ziel eines Umzugs innerhalb der Russischen Föderation ein vollständiges Ausweichen vor staatlicher Kontrolle offensichtlich nicht möglich ist, da es sich nicht um ein regional begrenztes Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas handelt, sondern um Maßnahmen, für die in der gesamten Russischen Föderation einheitliche Rechtsgrundlagen existieren und die auch - wenngleich mit unterschiedlicher Verfolgungsintensität - in der gesamten Russischen Föderation durchgesetzt werden (vgl. Jehovas Zeugen, Russland beginnt systematisch gegen einzelne Zeugen Jehovas vorzugehen, 02.05.2018, verfügbar unter: https//www.jw.org/de/aktuelle-meldungen/rechtlich/nach-regionen/russland/russland-beginnt-systematisch-gegen-einzelne-zeugen-jehovas-vorzugehen/ sowie die durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gereichte Übersicht). [...]