VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 20.08.2018 - 9 K 4801/16.GI.A - asyl.net: M26850
https://www.asyl.net/rsdb/M26850
Leitsatz:

Interner Schutz  innerhalb der Russischen Föderation bei Vorverfolgung aus religiösen Gründen in Kbardino-Balkarien:

Für Menschen, die in der Republik Kabardino-Balkarien aus religiösen Gründen - weil sie für Wahhabiten gehalten werden - verfolgt werden, besteht eine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Kabardino-Balkarien, religiöse Verfolgung, Islamisten, Wahhabiten, interne Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben bereits während der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, in ihrem Heimatort in den Verdacht geraten zu sein, der Glaubensrichtung der Wahabiten anzugehören. In diesen Verdacht seien sie geraten, weil sie mit einer gewissen Häufigkeit eine bestimmte Moschee besucht hätten. Sie seien daraufhin in einer Liste vermerkt worden, von der sie voraussichtlich nicht wieder entfernt werden würden. Vorwürfe gegen sie selbst habe es nicht gegeben, allerdings hätten sie in Kontakt zu Menschen gestanden, denen Vorwürfe gemacht worden seien. Der Kläger zu 1) sei über Jahre hinweg regelmäßig von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes FSB verhört worden, ohne dass jedoch körperliche Gewalt angewendet worden sei. Ab etwa 2010 sei er regelmäßig von bewaffneten Männern mitgenommen worden, die ihn nicht nur verhört, sondern auch misshandelt hätten. Dieses Verfolgungsschicksal erfüllt die Voraussetzungen einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung nach § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG durch staatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Die Kläger haben ihr Verfolgungsschicksal nicht nur konsistent vorgetragen, ihre Ausführungen decken sich darüber hinaus mit den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zur Situation in Kabardino- Balkarien. Danach werden Personen, die im Verdacht stehen, Anhänger "fundamentalistischer" Strömungen des Islam zu sein, auf eine Liste gesetzt, die detaillierte Informationen zu Leben und Gewohnheiten der gelisteten Personen enthält. Manchen Personen werden allein deshalb in das Register aufgenommen, weil sie eine bestimmte Moschee besucht haben (vgl. hierzu Amnesty International zur Sicherheitslage in Kabardino-Balkarien vom 15.07.2016, S. 2). [...]

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen und ihnen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 07.02.2018, S. 87). Das Gericht verkennt nicht, dass ihnen der legale Zuzug an vielen Orten durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert wird (ebenda). Da die Zahl der Menschen aus dem Nordkaukasus gleichwohl in allen russischen Großstädten in den letzten Jahren stark angewachsen ist und nordkaukasische Communities in der gesamten Russischen Föderation gibt (ebenda, S. 92), geht das Gericht aber davon aus, dass eine Wohnsitznahme trotz der vorgenannten Probleme möglich ist. Allein in Moskau sollen beispielsweise etwa 200.000 Tschetschenen leben (ebenda).

Nach Überzeugung des Gerichts besteht in der Russischen Föderation außerhalb Kabardino-Balkariens für die Kläger keine begründete Furcht vor Verfolgung. Angesichts der negativen Erfahrungen, die die Kläger in ihrer Heimatregion gemacht haben, ist es zwar menschlich nachvollziehbar, dass sie nicht in der Russischen Föderation leben möchten, nach Überzeugung des Gerichts ist es jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in einer Region außerhalb von Kabardino-Balkarien Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein werden. Zwar kann sich nach Einschätzung von Amnesty International eine Person, die bei einer Rückkehr in den Nordkaukasus dem Risiko der Verfolgung durch Staatsbeamte oder Personen ausgesetzt ist, die im Einverständnis mit staatlichen Stellen handeln, kaum auf einen wirkungsvollen und dauerhaften Schutz in anderen Teilen der Russischen Föderation verlassen (Amnesty International zur Sicherheitslage in Kabardino-Balkarien vom 15.07.2016, S. 4). [...]

Nach Überzeugung des Gerichts kann auch vernünftigerweise von den Klägern erwartet werden, dass sie sich in der Russischen Föderation niederlassen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet und mithin das Existenzminimum gesichert ist. Der Kläger zu 1) hat in seinem Herkunftsland K. studiert und bei einer L. sowie als M. gearbeitet. Nach Überzeugung des Gerichts wird es dem Kläger zu 1) als gesundem und arbeitsfähigem Mann daher auch in der Russischen Föderation möglich sein, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Dies gilt umso mehr, als viele Personen aus dem Nordkaukasus ihre Heimat aus sozioökonomischen Gründen verlassen und in die Russische Föderation ziehen und die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch entsprechende Chancen für russische Staatsangehörige aus der bislang eher strukturschwachen Region des Nordkaukasus bieten. Personen aus dem Nordkaukasus arbeiten in der Russischen Föderation hauptsächlich im Baugewerbe und Taxibusiness (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation vom 07.02.2018, S. 92). [...]