OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 21.09.2018 - 4 Bf 186/18.A - asyl.net: M26819
https://www.asyl.net/rsdb/M26819
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für junge Mutter aus Eritrea:

1. Eine bei Rückkehr nach Eritrea drohende Einberufung zum Nationaldienst knüpft nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG an, da die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes alle eritreischen Staatsangehörigen unterschiedslos trifft.

2. Einer Frau mit Kleinkind droht keine geschlechtsspezifische Verfolgung wegen gegen Frauen gerichteter sexueller Gewalt im Nationaldienst. Denn diese ist nur im militärischen Teil des Nationaldienstes verbreitet. Frauen mit Kleinkind müssen ihre Nationaldienstverpflichtung jedoch nicht im militärischen Teil, sondern allenfalls im zivilen Teil des Nationaldienstes erfüllen.

3. Die bei Rückkehr nach Eritrea drohende Bestrafungen wegen illegaler Ausreise, Nichtableistung des Nationaldienstes sowie Asylantragsstellung im Ausland knüpfen nicht an den Verfolgungsgrund der (unterstellten) politischen Überzeugung an.

4. Es ist nicht auszuschließen, dass Frauen während einer Inhaftierung in Eritrea sexualisierte Gewalt droht. Diese knüpft jedoch weder an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch an das Geschlecht an.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Militärdienst, Verfolgungsgrund, Asylrelevanz, Frauen, Kinder, Kind, Upgrade-Klage, Nationaldienst, Politmalus, Nationaler Dienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, illegale Ausreise, sexuelle Gewalt, geschlechtsspezifische Verfolgung, Asylantrag, Frauen mit Kleinkind, Kleinkind,
Normen: AsylG § 3b, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

b) Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft auch nicht aufgrund einer ihr bei Rückkehr in ihr Herkunftsland drohenden flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung zuzuerkennen. [...]

bb) Eine der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea drohende Einberufung zum Nationaldienst stellt für sich genommen keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar. [...]

Ob in der Heranziehung der inzwischen 23-jährigen und damit grundsätzlich dienstverpflichteten Klägerin zum unbefristeten Nationaldienst für sich genommen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu sehen ist, kann offen bleiben. Denn die Nationaldienstpflicht knüpft jedenfalls nicht - wie es § 3a Abs. 3 AsylG fordert - an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe an. Wie bereits ausgeführt, trifft die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes im Wesentlichen alle eritreischen Staatsangehörigen (vgl. Art. 6 und 8 der Proklamation Nr. 82/1995: "any Eritrean citizen", "all Eritrean citizens"). Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe findet insoweit nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand November 2016, 21.11.2016, S. 11 f. [2016/2]; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f. [G 1/15]; so im Ergebnis auch: VG Arnsberg, Urt. v. 4.5.2018, 12 K 5098/16.A, juris Rn. 53; VG Potsdam, Urt. v. 10.10.2017, 3 K 2609/16.A, juris Rn. 23; Urt. v. 17.2.2016, 6 K 1995/15.A, juris Rn. 17; VG Berlin, Urt. v. 1.9.2017, 28 K 166.17 A, juris Rn. 25; VG Münster, Urt. v. 23.8.2017, 9 K 325/15.A, juris Rn. 25; Urt. v. 22.7.2015, 9 K 3488/13.A, juris Rn. 101; VG Düsseldorf, Urt. v. 23.3.2017, 6 K 7338.16.A, juris, Rn. 61; VG Regens-burg, Urt. v. 27.10.2016, RN 2 K 16.31289, juris Rn. 24; VG München, Urt. v. 13.7.2016, M 12 K 16.31184, juris Rn. 23).

cc) Soweit die Klägerin geltend macht, dass ihr im Rahmen des Nationaldienstes geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen, insbesondere sexualisierte Gewalt, in Anknüpfung an das Merkmal "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" (§§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) drohen, ist eine entsprechende Verfolgung aufgrund der persönlichen Umstände der Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich. Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass es im Nationaldienst Eritreas verbreitet zu sexueller Gewalt gegen Frauen in unterschiedlicher Form kommt (siehe etwa EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 34, 39 [G 1/15]; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand November 2016, 21.11.2016, S. 12 [2016/2]; AI, Report Eritrea 2017/18, 22.2.2018 [G 8/18]; SFH, Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, 13.2.2018 [G 3/18]; Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service, 2017 [G 21/17]; UN Human Rights Council (HRC), Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015 [G 6/15]; United States Department of State (USDOS), Eritrea 2017, Human Rights Report, 20.04.2018 [G 4/18]; Human Rights Watch: World Report 2018 - Eritrea, 18.1.2018 [G 7/18]). Nach übereinstimmender Darstellung in den Erkenntnisquellen erfolgen entsprechende Gewalthandlungen im Rahmen des Nationaldienstes allerdings durch Militärangehörige gegenüber Rekrutinnen im Ausbildungslager Sawa und in der militärischen Grundausbildung sowie gegenüber Dienstverpflichteten im militärischen Teils des Nationaldienstes (siehe hierzu eingehend Kibreab, Sexual Violence in the Erit-rean National Service, 2017, S. 7 ff. [G 21/17]; ders., The Eritrean National Service, 2017, S. 132 ff.; HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5.6.2015, Nr. 709, 714, 1202, 1312 ff. [G 6/15]; USDOS, Eritrea 2017, Human Rights Report, 20.4.2018, S. 3 [G 4/18]. Dass die Klägerin als Mutter eines im Jahr 2017 geborenen Kleinkindes im Falle einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil (einschließlich der militärischen Grundausbildung) des Nationaldienstes einbe-rufen werden würde, ist indes bei zusammenfassender Würdigung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller anhand der vorliegenden Erkenntnisquellen feststellbaren Umstände zur Überzeugung des Senats nicht beachtlich wahrscheinlich. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen müssen verheiratete Frauen sowie Frauen mit Kindern ihre Nationaldienstverpflichtung in aller Regel nicht im militärischen Teil, sondern (allenfalls) im zivilen Teil des Nationaldienstes erfüllen. Im Einzelnen: [...]

dd) Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, ihr drohe im Falle der Rückkehr nach Eritrea eine menschenrechtswidrige Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes. Dies gilt sowohl für eine (etwaige) Bestrafung als solche (dazu unter (1)), als auch für die von der Klägerin als weitere bzw. eigenständige Verfolgungshandlung geltend gemachte sexualisierte Gewalt im Rahmen einer Inhaftierung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes (dazu unter (2)).

(1) Nach den gesetzlichen Bestimmungen Eritreas werden Verstöße gegen die Nationaldienst-Proklamation Nr. 82/1995 mit Haftstrafen von zwei Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet (Art. 37 Abs. 1), sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 nicht härtere Strafen ergeben. Hiernach kann Desertion mit anschließender Flucht ins Ausland mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. In Kriegszeiten liegt das Strafmaß zwischen fünf Jahren und lebenslänglicher Haftstrafe, wobei in schweren Fällen auch die Todesstrafe verhängt werden kann. Ein zwischenzeitlich neu erlassenes Strafgesetzbuch wird in der Praxis noch nicht angewandt (vgl. zum Ganzen EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 41 f. [G 1/15]; Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 17, 22, 32 [G 8/16]). [...]

Ob Personen, die - wie die im Alter von 13 Jahren ausgereiste Klägerin - bereits längere Zeit vor Beginn ihrer Nationaldienstpflicht aus Eritrea ausgereist sind und sich im nationaldienstpflichtigen Alter noch nie in Eritrea aufgehalten haben, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überhaupt eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Nichtableistung des Nationaldienstes droht, kann offen bleiben (verneinend VG Münster, Urt. v. 22.7.2015, 9 K 3488/13.A, juris Rn. 93). Denn sowohl eine Bestrafung der illegalen Ausreise als auch eine Sanktionierung der Umgehung des Nationaldienstes durch illegale Ausreise würden jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund - insbesondere nicht an die politische Überzeugung - anknüpfen (dazu unter (a)). Der Strafbarkeit einer Ausreise entgegen den Bestimmungen der Proklamation Nr. 24/1992, insbesondere ohne gültiges Ausreisevisum, kommt auch nicht für sich genommen unter dem von der Klägerin geltend gemachten Gesichtspunkt der "Republikflucht" politischer Charakter zu (dazu unter (b)).

(a) Eine Bestrafung von eritreischen Staatsangehörigen allein wegen illegaler Ausreise und damit einhergehender Umgehung des Nationaldienstes knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an die politische Überzeugung der Betroffenen an.

Ein Ausländer wird wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil er eine bestimmte Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, und zwar in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG), wobei gemäß § 3b Abs. 2 AsylG genügt, dass dem Ausländer diese Überzeugung von seinem Verfolger zugeschrieben wird (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 19.4.2018, 1 C 29.17, juris Rn. 21). [...]

Nach diesen Maßstäben ist nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung von illegaler Ausreise und Umgehung des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen ihrer - auch nur zugeschriebenen - politischen Überzeugung zu treffen. Bei zusammenfassender, qualitativer Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen überwiegen zur Überzeugung des Senats die Tatsachen, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der illegal ausgereist ist und dadurch den Nationaldienst umgeht, generell eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, die dafür sprechenden Umstände. [...]

Schließlich begründet auch der Umstand, dass die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihr im Falle einer Rückkehr nach Eritrea von den dortigen Behörden eine Regimegegnerschaft zugeschrieben werden würde und damit Verfolgungshandlungen in Anknüpfung an eine (unterstellte) politische Überzeugung drohten. [...]

(b) Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt der Strafdrohung wegen illegaler Ausreise auch nicht für sich genommen unter dem Gesichtspunkt der Republikflucht politischer Charakter zu. [...]

(2) Soweit die Klägerin geltend macht, dass sie im Rahmen einer Inhaftierung in Eritrea sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein würde, begründet dies ebenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Vor diesem Hintergrund vermag der Senat auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht zu der Überzeugung zu gelangen, dass der Klägerin bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt im Rahmen einer Haft außerhalb des (militärischen) Nationaldienstes - bzw. das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen - droht bzw. solche Handlungen, soweit sie gleichwohl vorkommen sollten, zielgerichtet an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten soziale Gruppe bzw. an das Geschlecht im Sinne des § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG anknüpfen. [...]