VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 24.09.2018 - A 2 K 6185/18 - asyl.net: M26799
https://www.asyl.net/rsdb/M26799
Leitsatz:

1. Die existenzielle Notlage eines minderjährigen Kindes im Zielstaat der Abschiebung stellt nur dann eine (mittelbare) Trennungswirkung dar, wenn die Notlage allein auf der Trennung des Kindes von seiner Kern­familie beruht und somit im Falle einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen entfiele. Droht der Kernfamilie hingegen auch im Falle einer gemeinsamen Rückkehr eine ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) i.V.m. Art. 3 EMRK (juris: MRK) begründende existentielle Notlage, stellt die Notlage des Kindes keine Trennungswirkung dar, sondern beruht auf trennungsunabhängigen Umständen (Rn. 27).

2. Liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) vor, ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß §§ 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 38 Abs. 1 S. 1 AsylG (juris: AsylVfG 1992) weder berechtigt, eine Ausreisefrist zu setzen, noch eine Abschiebungsandrohung zu erlassen, so dass die entsprechende Ziffer des angegriffenen Bundesamtsbescheids insgesamt aufzuheben ist. Eine gemäß § 59 Abs. 3 S. 3 AufenthG auf einen bestimmten Zielstaat beschränkte Aufhebung unter Aufrechterhaltung des Abschiebungsverbots im Übrigen kommt demgegenüber nicht in Betracht, da § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) eine für das Asylverfahren von § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) abweichende Spezialregelung trifft (Rn. 31).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: minderjährig, Afghanistan, Abschiebungsverbot, Trennungwirkung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, existenzielle Notlage, humanitäre Lage, Abschiebungsandrohung, Ausreisefrist,
Normen: EMRK Art. 3, AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AsylG § 38 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

16 1. Für die Beurteilung der Situation, mit der sich die Klägerin im Falle ihrer Abschiebung nach Afghanistan konfrontiert sähe, ist auf diese isoliert und nicht auf ihre gesamte (Kern-)Familie bestehend aus ihren Eltern, ihren drei Brüdern und ihr abzustellen.

17 Die Prognose, welcher (Gefahren-)Situation sich ein in sein Heimatland zurückkehrender Ausländer ausgesetzt sieht, erfordert eine möglichst realitätsnahe Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist hierbei anerkannt, dass zwar regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr des Ausländers mit seinen Familienangehörigen auszugehen ist, falls er auch in der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen als Familie zusammenlebt. Nicht angenommen werden kann indes eine gemeinsame Rückkehr mit solchen Familienangehörigen, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits Abschiebungsschutz genießen. Denn es widerspräche dem damit zugleich verbindlich festgestellten Schutzstatus, auch bei einem solchen Sachverhalt die gemeinsame Rückkehr des erfolglosen Asylbewerbers mit seinen anerkannten Familienangehörigen zu unterstellen. Zudem wäre dies wirklichkeitsfremd und würde deshalb dem Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Situation im – hypothetischen – Rückkehrfall widersprechen (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305; Urt. v. 27.07.2000 - 9 C 9.00 -, DVBl 2001, 211; Urt. v. 13.06.2013 - 10 C 13/12 -, BVerwGE 147, 8).

18 Vor diesem Hintergrund ist auf die Klägerin isoliert abzustellen, da das erkennende Gericht die Beklagte bereits mit rechtskräftigem Urteil vom 11.06.2018 verpflichtet hat, festzustellen, dass für die Eltern der Klägerin und ihre drei Brüder ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.

19 2. Trotz der isoliert vorzunehmenden Betrachtungsweise, der eine (hypothetische) Abschiebung der Klägerin ohne ihre Kernfamilie zugrunde zu legen ist, scheidet die Prüfung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Schutz der Familie) im Hinblick auf etwaige mit der Trennung der Klägerin von ihrer Kernfamilie – unmittelbar oder mittelbar – einhergehenden Gefahren vorliegend aus. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes beschränkt sich die Zuständigkeit des Bundesamtes auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse gemäß § 60 AufenthG, wohingegen über das Vorliegen inlandsbezogener Abschiebungshindernisse im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG allein von der örtlich zuständigen Ausländerbehörde zu entscheiden ist. Der Schutz der Familie gemäß Art. 8 EMRK, in den durch die Abschiebung einzelner Familienmitglieder eingegriffen wird, vermag indes allein ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis zu begründen. Dabei sind von der Ausländerbehörde neben der unmittelbaren Trennungswirkung im Inland auch – sofern hierzu Veranlassung besteht – die mittelbaren nachteiligen Folgen in den Blick zu nehmen, die den Kindern wegen der Trennung von ihren Eltern im Zielstaat der Abschiebung drohen können. Zu diesen erst im Zielstaat eintretenden mittelbaren Trennungswirkungen zählen insbesondere Gefahren, die entstehen können, falls die Kinder im Zielstaat ohne Beistand wären und deshalb alsbald in eine existenzielle Notlage geraten könnten. Obwohl es sich insoweit um im Zielstaat auftretende Folgen der Abschiebung handelt, sind diese gleichwohl allein von der Ausländerbehörde zu ermitteln und zu berücksichtigen. Denn diese Umstände fließen, soweit sie durch die Trennung der Kinder von ihren Eltern bedingt sind, zunächst und vorrangig in die der Ausländerbehörde vorbehaltene Entscheidung über die aufenthaltsrechtliche Behandlung der Kinder und einen etwaigen Vollzug der Abschiebung ein (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305; Urt. v. 27.07.2000 - 9 C 9.00 -, DVBl 2001, 211; sowie aus jüngerer Zeit etwa Bayerischer VGH Beschl. v. 31.07.2017 - 20 ZB 16.30094 -, juris).

20 3. Der Klägerin steht jedoch vor dem Hintergrund der in Afghanistan derzeit herrschenden schlechten humanitären Verhältnisse wegen ihrer besonderen individuellen Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit ein Anspruch auf die Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu. [...]

27 Bei dieser existenziellen Notlage der Klägerin handelt es sich auch nicht etwa um eine mittelbare Trennungswirkung, die im Rahmen der zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote außer Betracht zu bleiben hat. Denn die existenzielle Notlage eines minderjährigen Kindes im Zielstaat der Abschiebung stellt nur dann eine (mittelbare) Trennungswirkung dar, wenn die Notlage allein auf der Trennung des Kindes von seiner Kernfamilie beruht und somit im Falle einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen entfiele. Ist dies hingegen nicht der Fall, weil der Kernfamilie auch im Falle einer gemeinsamen Rückkehr eine ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK begründende existentielle Notlage droht, so stellt die Notlage des Kindes keine Trennungswirkung dar, sondern beruht auf Umständen, die trennungsunabhängig existieren. So aber liegt der Fall hier. Denn wie bereits durch rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 11.06.2018 (- A 2 K 3410/18 -) festgestellt, steht der Kernfamilie der Klägerin vor dem Hintergrund der in Afghanistan derzeit herrschenden schlechten humanitären Verhältnisse wegen der besonderen individuellen Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit des Familienverbands ein Anspruch auf Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu, an dessen Vorliegen sich auch unter Einbeziehung der Klägerin nichts ändert.

28 Auf diese Weise wird auch nicht etwa das Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Rückkehrsituation umgangen, das vorliegend – wie bereits dargelegt – eine isolierte Betrachtung der Klägerin gebietet. Denn im hiesigen Kontext dient die gemeinsame Betrachtung der Kernfamilie nicht etwa der Prognose, welchen Gefahren sich ein gemeinsam mit seiner Familie zurückkehrender Ausländer im Zielstaat der Abschiebung ausgesetzt sieht, sondern vielmehr dazu, die einem allein zurückkehrenden Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren als trennungsbedingt oder trennungsunabhängig zu qualifizieren.

29 Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses streitet im Übrigen auch der normative Gedanke, dass die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots im Falle eines mit seiner Kernfamilie gemeinsam eingereisten minderjährigen Ausländers nicht von dem lediglich formalen Umstand abhängen darf, ob über dessen Asylantrag in Rahmen eines gemeinsamen Verfahrens mit den Asylanträgen seiner Familienangehörigen oder aber – wie hier – in einem gesonderten Verfahren entschieden wird. Denn wäre über den Asylantrag der Klägerin von Vornherein gemeinsam mit den Asylanträgen ihrer Eltern und Brüder entscheiden worden, so hätte ihr – unter Zugrundelegung der dann gebotenen gemeinsamen Betrachtungsweise – als Mitglied ihrer Kernfamilie ohne Weiteres ein Anspruch auf Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zugestanden. [...]

31 Da die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, war das Bundesamt gemäß §§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG weder berechtigt, eine Ausreisefrist zu setzen, noch eine Abschiebungsandrohung zu erlassen, sodass Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids insgesamt aufzuheben war (bzgl. der Ausreisefrist vgl. Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 38 Rn. 1). Eine gemäß § 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG lediglich auf Afghanistan beschränkte Aufhebung unter Aufrechterhaltung des Abschiebungsverbots im Übrigen kommt demgegenüber nicht in Betracht, da § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG eine für das Asylverfahren von § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG abweichende Spezialregelung trifft (vgl. Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 59 Rn. 5; VGH Baden- Württemberg, Beschl. v. 10.08.2018 - A 11 S 1782/18 -, u.v.; Urt. v. 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris). Mangels Abschiebungsandrohung kommt das in § 11 Abs. 1 AufenthG normierte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gleichfalls nicht zum Tragen, sodass auch die in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids getroffene Befristungsentscheidung aufzuheben war.

32 [...] Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. [...]