VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 04.05.2018 - 21 K 3140/17.A - asyl.net: M26782
https://www.asyl.net/rsdb/M26782
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für im Iran aufgewachsenen Hazara hinsichtlich Afghanistan wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung:

Auch jungen alleinstehenden Männern kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan extreme Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG drohen, wenn besondere Risikofaktoren hinzutreten. Dies gilt z.B. für einen Angehörigen der Volksgruppe der Hazara, der sein ganzes Leben im Iran verbracht hat, in Afghanistan keine nahen Angehörigen mehr hat, dem die Bevölkerung als Neuankömmling mit Misstrauen begegnen würde und der als Angehöriger der Hazara in vielen Landesteilen Diskriminierung ausgesetzt wäre. In einem solchen Fall ist nicht davon auszugehen, dass eine ausreichende Existenzgrundlage erwirtschaftet werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, Hazara, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsverbot, junger alleinstehender Mann, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass trotz der nach wie vor teilweise äußerst schlechten allgemeinen Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung erleiden müsste. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau grundsätzlich nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher Rückkehrer nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (OVG NRW, Urteil vom 20. Februar 2017 - 13 A 347/17.A -, S. 3 des Beschlussabdruckes (n.v.) und Beschluss vom 24. März 2016 - 1 3 A 2588/15.A - , S, 4 des Beschlussabdrucks (n.v.) und Urteil vom 3. März 2016 - 13 A 1828/09.A - juris Rdnr. 73; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Beschluss vom 15. Juni 2016 - 13a ZB 16.30083 -, juris Rdnr. 7 und Beschluss vom 30. September 2015 - 13a ZB 15.30063 -, juris Rdnr. 6 und Urteil vom 12. Februar 2015 - 13a B 14.30309 - , juris Rdnr. 17; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. Oktober 2 0 1 5 - 1 A 144/15.A -, juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Juli 2015 - 9 LB 320/14 - juris; siehe auch VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Januar 2017 - 18 K 2043/17.A - juris Rdnr. 68).

Allerdings ist den aktuellen Auskünften zu entnehmen, dass die Situation, welche ein nach Afghanistan zurückgeführter Mensch in Kabul oder einer anderen Region vorfindet, im Hinblick auf die Existenzsicherung wesentlich davon abhängt, ob er über familiäre, verwandtschaftliche oder sonstige soziale Beziehungen verfügt, auf die er sich verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt ist. Je stärker die soziale Verwurzelung des Rückkehrers ist und je besser er mit den Lebensverhältnissen vertraut ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan eingliedern und dort jedenfalls ein Existenzminimum sichern (vgl. Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016, Stand: September 2016, S. 18; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016, S. 95 ff.).

Demgegenüber kann sich eine extreme Gefahrenlage für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben (siehe zu den Risikogruppen: UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 38 ff.; siehe nur exemplarisch mit weiteren Nachweisen: OVG NRW, Urteil vom 5. April 2006 - 20 A 5161/04.A -, juris Rdnr. 55; VG Düsseldorf, Urteil vom 8. März 2017 - 18 K 4307/15.A - S. 13 ff. d. Urteilsabdruckes (n.v.); VG Gelsenkirchen, Urteil vom 28. April 2016 - 5a K 1428/15.A -, juris Rdnr. 42 ff. und VG Lüneburg, Urteil vom 27. Februar 2017 - 3 A 146/16 juris Rdnr. 45).

Danach ist es dem Kläger nicht zuzumuten, sich in Afghanistan aufzuhalten. Das Gericht geht davon aus, dass es ihm nicht gelingen wird, dort sein Existenzminimum zu sichern, so dass er schnell in eine existenzielle Notlage geriete. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht nur seinen eigenen Lebensunterhalt, sondern jedenfalls auch den seines minderjährigen Sohnes, der sich mit ihm im Bundesgebiet aufhält, sowie langfristig wohl auch den Bedarf seiner weiteren engen Angehörigen, nämlich seiner Ehefrau und seiner Tochter, welche derzeit noch im Iran leben, decken müsste.

Der Kläger ist mit den Lebensbedingungen in Afghanistan in keiner Weise vertraut, da er im Iran geboren wurde und sich sein Leben lang bis zum Beginn seiner Reise nach Europa ausschließlich dort aufgehalten hat. Durch dieses Aufwachsen im iranischen Lebensumfeld ist der Kläger geprägt. Der Kläger verfügt in Afghanistan zudem nicht einmal ansatzweise über ein soziales Netzwerk, auf das er zum Überleben jedoch angewiesen wäre. Da die ihm bekannten Familienangehörigen sämtlich bereits in der Elterngeneration Afghanistan verlassen und sich im Iran angesiedelt haben, besitzt er in Afghanistan keinerlei verwandtschaftliche Kontakte, an die er sich zumindest für eine Übergangszeit mit der Bitte um Unterstützung wenden könnte. Ohne derartige Kontakte ist es in der afghanischen Gesellschaft regelmäßig nicht möglich, eine Arbeitsstelle oder auch nur eine Unterkunft zu finden. Aufgrund seiner Sprache sowie der im Iran erlernten Verhaltensweisen, Bekleidungsgewohnheiten und seines gesamten Habitus wäre der Kläger ohne weiteres als Fremder erkennbar und in der in weiten Kreisen von Vorsicht und Misstrauen geprägten afghanischen Gesellschaft daher verdächtig. Auf dem afghanischen Arbeitsmarkt wäre er damit nahezu chancenlos. Als Angehöriger des Volkes der Hazara wäre er zudem in weiten Teilen des Landes zusätzlicher Diskriminierung ausgesetzt (vgl. zu den Chancen einer Integration von Personen, die lange im Iran gelebt haben, in die afghanische Gesellschaft nach einem Aufenthalt in Europa: ..., Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden, insbes. S. 283 - 299).

Nach alledem war dem Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG stattzugeben. Damit waren auch die unter den Nrn. 5 und 6 des angegriffenen Bescheides getroffenen Entscheidungen gegenstandslos und gleichfalls aufzuheben [...]