Volle Sozialleistungen für anerkannte Flüchtlinge auch mit befristetem Aufenthaltsrecht:
1. Anerkannte Flüchtlinge, die eine befristete Aufenthaltserlaubnis besitzen, haben auch bezüglich der Höhe der Sozialleistungen Anspruch auf Inländergleichbehandlung und daher Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Staatsangehörige des Aufnahmestaats und Flüchtlinge mit unbefristetem Aufenthaltsrecht. Dass sie einen größeren Unterstützungsbedarf haben, ist keine Rechtfertigung für die Zahlung niedrigerer Sozialleistungen.
2. Betroffene können sich vor nationalen Gerichten auf eine Gleichbehandlung, wie sie in Art. 29 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie vorgesehen ist, berufen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 01.03.2016 - C‑443/14; C‑444/14, Alo und Osso gg. Deutschland, Asylmagazin 3/2016 - asyl.net: M23635)
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Zur zweiten Frage
18 Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass Flüchtlinge, denen in einem Mitgliedstaat ein befristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde, geringere Sozialhilfeleistungen erhalten als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und als Flüchtlinge, denen dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde.
19 In Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 wird eine allgemeine Regel aufgestellt, wonach Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist – zu denen nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie Flüchtlinge gehören –, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C-443/14 und C-444/14, EU:C:2016:127, Rn. 48).
20 Nach Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten zwar abweichend von dieser allgemeinen Regel die Sozialhilfe für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, auf Kernleistungen beschränken, doch geht schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass dies nur für Personen mit subsidiärem Schutzstatus gilt und nicht für Flüchtlinge.
21 Insoweit bedeutet der Umstand, dass nach Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie den Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die "notwendige" Sozialhilfe zu gewähren ist, nicht, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten gestatten wollte, den Flüchtlingen Sozialleistungen in einer Höhe zu gewähren, die sie als für die Bedarfsdeckung ausreichend ansehen, die aber geringer ist als bei den Sozialleistungen für ihre eigenen Staatsangehörigen.
22 Zum einen ergibt sich nämlich schon aus dem Aufbau von Art. 29 der Richtlinie 2011/95, dass in dessen Abs. 1 das Wort "notwendige" nur deshalb erwähnt wird, um den Gegensatz zwischen den Leistungen, die von dem dort aufgestellten Grundsatz erfasst werden, und den "Kernleistungen" hervorzuheben, auf die die Sozialhilfe nach Art. 29 Abs. 2 beschränkt werden kann.
23 Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, dass Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie jeder praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn Art. 29 Abs. 1 dahin auszulegen wäre, dass er es den Mitgliedstaaten allgemein gestattet, die Leistungen für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, unter Beschränkung auf das zwingend Notwendige niedriger anzusetzen als die Leistungen für ihre eigenen Staatsangehörigen.
24 Zum anderen wäre eine solche Befugnis der Mitgliedstaaten bei den Leistungen für Flüchtlinge unvereinbar mit dem in Art. 23 der Genfer Konvention, in dessen Licht Art. 29 der Richtlinie 2011/95 auszulegen ist, aufgestellten Grundsatz, dass Flüchtlinge auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen ebenso zu behandeln sind wie die eigenen Staatsangehörigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C-443/14 und C-444/14, EU:C:2016:127, Rn. 51).
25 Folglich muss ein Mitgliedstaat den Flüchtlingen, denen er diesen Status – sei es befristet oder unbefristet – zuerkannt hat, Sozialleistungen in gleicher Höhe gewähren wie seinen eigenen Staatsangehörigen (Urteil vom 1. März 2016, Alo und Osso, C-443/14 und C-444/14, EU:C:2016:127, Rn. 48 und 50).
26 Der Grundsatz der Inländerbehandlung von Flüchtlingen kann nicht durch Art. 24 der Richtlinie 2011/95 in Frage gestellt werden, der es den Mitgliedstaaten gestattet, den Flüchtlingen einen gegebenenfalls auf drei Jahre befristeten Aufenthaltstitel auszustellen.
27 Da die durch Kapitel VII der Richtlinie, zu dem ihr Art. 29 gehört, verliehenen Rechte die Folge der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus sind und nicht der Ausstellung eines Aufenthaltstitels, dürfen sie nur nach Maßgabe der in diesem Kapitel vorgesehenen Voraussetzungen eingeschränkt werden, so dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, dort nicht vorgesehene Beschränkungen hinzuzufügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C-373/13, EU:C:2015:413, Rn. 97).
28 Außerdem gelten sowohl Art. 29 der Richtlinie 2011/95 als auch Art. 23 der Genfer Konvention für alle Flüchtlinge und machen die ihnen zustehenden Rechte nicht von der Dauer ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Mitgliedstaat oder der Laufzeit des ihnen erteilten Aufenthaltstitels abhängig.
29 Aus dem Vorstehenden folgt, dass Flüchtlinge, denen ein auf drei Jahre befristeter Aufenthaltstitel erteilt wurde, Sozialleistungen in gleicher Höhe erhalten müssen wie die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der ihnen den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat.
30 Dieses Ergebnis kann nicht durch das Argument in Frage gestellt werden, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 vereinbar sei, weil sich Flüchtlinge, die sich seit mehreren Jahren in einem Mitgliedstaat aufhielten, in einer objektiv anderen Lage befänden als Flüchtlinge, die erst vor Kurzem in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist seien, und zwar wegen des höheren Bedürfnisses der letztgenannten Gruppe nach konkreter Unterstützung. [...]
Zur ersten Frage
36 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich ein Flüchtling vor den nationalen Gerichten auf die Unvereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 berufen kann, um die Beseitigung der in dieser Regelung enthaltenen Beschränkung seiner Rechte zu erreichen. [...]
38 Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 räumt den Mitgliedstaaten zwar insbesondere bei der Festlegung der Höhe der Sozialhilfe, die sie für notwendig erachten, ein gewisses Ermessen ein, doch erlegt er jedem Mitgliedstaat mit unmissverständlichen Worten eine genaue und unbedingte Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auf, die darin besteht, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Flüchtling, dem er Schutz gewährt, im gleichen Umfang Sozialhilfe erhält wie seine eigenen Staatsangehörigen.
39 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass ähnliche Bestimmungen wie Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, die die Gleichbehandlung mit Inländern vorschreiben oder bestimmte Ungleichbehandlungen verbieten, unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Mai 1999, Sürül, C-262/96, EU:C:1999:228, Rn. 63 und 74, vom 22. Dezember 2010, Gavieiro Gavieiro und Iglesias Torres, C-444/09 und C-456/09, EU:C:2010:819, Rn. 78, sowie vom 6. März 2014, Napoli, C-595/12, EU:C:2014: 128, Rn. 48 und 50).
40 In diesem Kontext ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die nationalen Gerichte und die Verwaltungsorgane, sofern eine mit den Anforderungen des Unionsrechts übereinstimmende Auslegung und Anwendung der nationalen Regelung nicht möglich ist, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen einräumt, zu schützen haben, indem sie entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts gegebenenfalls unangewendet lassen (Urteil vom 7. September 2017, H., C-174/16, EU:C:2017:637, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]