VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 23.10.2018 - 4 A 228/17 HAL - asyl.net: M26726
https://www.asyl.net/rsdb/M26726
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea:

Der eritreische Staat schreibt Deserteuren und Dienstverweigerern sowie deren Familienangehörigen nicht ohne weitere Anhaltspunkte eine gegnerische politische Überzeugung zu (in Abkehr von Urteil vom 21.09.2017 - 4 A 219/16 HAL - asyl.net: M25600; sich anschließend an: BVerwG, Urteil vom 19.04.2018 - 1 C 29.17 - asyl.net: M26300, VG Düsseldorf, Urteil vom 09.11.2017 - 6 K 13718/16.A - asyl.net: M25708; andere Ansicht: VG Saarland, Urteil vom 17.01.2017 - 3 K 1043/16 - asyl.net: M24614).

(Leitsatz der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Upgrade-Klage, Nationaldienst, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Politmalus, Desertion, Dienstverweigerung, Flüchtlingseigenschaft, Familienangehörige, illegale Ausreise,
Normen: AsylG § 3b, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

b) Die Kammer ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel auch nicht davon überzeugt, dass dem Kläger in Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung droht.

aa) Für den inzwischen 22-jährigen Kläger besteht eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht unter dem Aspekt einer bevorstehenden Einziehung zum Nationaldienst.

Auch wenn es beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Eritrea zum Nationaldienst herangezogen werden würde, würde diese nicht an einen Verfolgungsgrund anknüpfen, sondern den Kläger wie jeden eritreischen Staatsangehörigen im dienstpflichtigen Alter treffen. Auf die Ausführungen unter Buchstabe a) wird Bezug genommen.

bb) Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausgeht, dass dieser im Zeitpunkt seiner Ausreise im Jahr 2012 mit 16 Jahren bereits dienstpflichtig gewesen ist, er also im dienstpflichtigen Alter aus Eritrea illegal - weil ohne das erforderliche Ausreisevisum, dessen Erteilung die Erfüllung der Nationaldienstpflicht oder die legale Freistellung von der Dienstpflicht voraussetzt - ausgereist ist und ihm deshalb die Vollstreckung einer gegen ihn von den Behörden außergerichtlich und willkürlich verhängten Haftstrafe unter unmenschlichen Haftbedingungen droht, erfolgte die drohende Inhaftierung nicht wegen eines Verfolgungsgrundes im Sinne von § 3b AsylG.

Eine Inhaftierung in Eritrea ist als unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und somit nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG auch als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu bewerten. Die Haftbedingungen in eritreischen Gefängnissen werden insbesondere wegen massiver Überbelegung, unzureichender medizinischer Behandlung und schlechter Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln als unmenschlich, hart und lebensbedrohlich beschrieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, November 2017, S. 17; Amnesty International, Just Deserters: Why indefinite National Service in Eritrea has created a generation of refugees, revised edition 2016, S. 47 ff.). Insbesondere gibt es Berichte über unterirdische Gefängnisse sowie als Gefängniszellen verwendete Schiffscontainer, die aufgrund des Klimas in Eritrea tagsüber extrem heiß und nachts extrem kalt werden und über eine minimale Frischluftzufuhr verfügen (Amnesty International, Just Deserters: Why indefinite National Service In Eritrea has created a generation of refugees, revised edition 2Ö16, S. 47 ff.). Folter und Misshandlungen sollen während der Inhaftierung weit verbreitet sein. Berichtet wird von Schlägen mit Stöcken und dem Festbinden von Häftlingen in gekrümmter Haltung (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, November 2017, S. 17; vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 - 28 K 166.17 A -, juris m.w.N.).

Die dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea drohende Inhaftierung soll die Verletzung der nationalen Dienstpflicht durch diesen sanktionieren; sie knüpft jedoch nicht an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b.Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgrund; insbesondere nicht an eine dem Kläger zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. Ein Ausländer wird wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil der Ausländer eine bestimmte Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, und zwar in einer Angelegenheit, die die in § 3cAsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Dabei genügt es, dass dem Ausländer diese Überzeugung von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 -, juris). Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sog. Politmalus) (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86; 2 BvR 961/86 -; BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09 -, jeweils juris). Dagegen liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 -, juris m.w.N.). Zur Bestimmung einer politischen Verfolgung kommt es vielmehr darauf an, ob der Staat seine Bürger in ihrer politischen Überzeugung zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechtzuerhalten trachtet und dabei die Überzeugung seiner Staatsbürger unbehelligt lässt (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 - 9 C 36.83 -, juris). Dementsprechend stellen Bestrafungen wegen Wehrdienstentziehung, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nicht schlechthin eine politische Verfolgung dar. Indizien für die Anknüpfung an flüchtlingsschutzrelevante Merkmale, insbesondere an die politische Überzeugung, können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 1 C 29.17 -, juris).

Nach diesen Grundsätzen lässt sich in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht feststellen, dass dem Kläger eine Verfolgungshandlung wegen einer ihm von den eritreischen Behörden zugeschriebenen missliebigen politischen Überzeugung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG droht. Die Kammer konnte aufgrund der derzeitigen Erkenntnislage - in Abkehr von ihrer bisherigen Rechtsprechung in anderer Kammerbesetzung (vgl. VG Halle, Urteil vom 21. September 2017 - 4 A 219/16 HAL -) - nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit die Überzeugung gewinnen, dass der Staat Eritrea allen Deserteuren und Dienstverweigerern sowie deren Familienangehörigen ohne weitere Anhaltspunkte eine gegnerische politische Überzeugung zuschreibt und sie gerade Hinblick darauf zu bestrafen sucht (so auch VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 28 K 166.17 A -; das Urteil des VG Berlin insoweit bestätigend: BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 -; VG Würzburg, Urteil vom 15. Februar 2018 - W.3 K 17.31285 -; VG Bremen, Urteil vom 16. Februar 2018 - 2 K 123/17 -; VG Magdeburg, Urteil vom 26. Februar 2018 - 8 A 379/17 MD; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Mai 2017 - 1 a K 1931/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 16. März 2017 - 6 K 12164/16.A - sowie Urteil vom 9. November 2017 - 6 K 13718/16.A; VG München, Urteil vom 10. Januar 2017 - M.12 K 16.33229 -, jeweils; juris; a.A. VG Cottbus, Urteil vom 19. April 2018 - VG 6 K 12391/16.A -; VG Saarland, Urteil vom 17. Januar.2017, 3 K 1043/16 - ; VG Schwerin, Urteil vom 20. Januar 2017 - 15 A 3003/16 As SN; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 - 4 A 1646/16 - sowie Gerichtsbescheid vom 15. März 2017 - 19 A 3945/16 -, jeweils juris).

So stellt sich zunächst die Strafpraxis des eritreischen Staates nicht als Ausdruck einer ideologisch motivierten Gesinnungsverfolgung dar. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Sanktionierungsmaßnahmen im Ergebnis vorrangig auf die Erzwingung von Geständnissen, die Informationsgewinnung, die Bestrafung für angebliches Fehlverhalten und die Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst sowie - innerhalb des Militärs - die Aufrechterhaltung der Disziplin gerichtet sind.

Nach Art. 37 der Proklamation Nr. 82/1995 werden - vorbehaltlich strengerer Strafen nach dem Strafgesetzbuch von 1991 - alle Verstöße gegen die dortigen Bestimmungen mit Geldstrafe und/oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet. Nach dem Strafgesetzbuch von 1991 werden - während Kriegszeiten - die Dienstverweigerung mit bis zu fünf Jahren und die Desertion mit mindestens fünf Jahren und in besonderen Fällen mit der Todesstrafe bestraft. Nach dem im Jahr 2015 erlassenen, aber in der Praxis offenbar noch nicht angewandten Strafgesetzbuch wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, wer sich vorsätzlich dem Militärdienst entzieht oder einen anderen hierzu anstiftet oder ihm dabei Hilfe leistet, wobei im besonders schweren Fall eine Freiheitsstrafe von sieben bis zehn Jahren vorgesehen ist (vgl. SEM, Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016, S. 17).

Über die tatsächliche Sanktionierungspraxis der Desertion oder Dienstverweigerung selbst liegen nur wenige, über die Praxis bei einer bloßen Beteiligung an der Desertion oder Dienstverweigerung eines anderen keine Informationen vor. Den vorliegenden Berichten zufolge werden im Inland aufgegriffene Deserteure von ihren militärischen Vorgesetzten außergerichtlich und willkürlich mit Haft bestraft, wobei die Haft bei Deserteuren zwischen einem Monat und zwei Jahren betragen soll (vgl. SEM, Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016, S. 18 f.). Auch im Inland aufgegriffene Dienstverweigerer werden Berichten zufolge außergerichtlich und willkürlich mit einigen Monaten Haft bestraft (SEM, Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016, S. 23). Wenngleich keine Informationen zur allgemeinen Strafverfolgungspraxis vorliegen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, November 2017, S. 12), bleiben die derzeit verhängten Haftstrafen für Desertion und Dienstverweigerung von regelmäßig einigen Monaten bis zu zwei Jahren offenbar hinter den gesetzlichen Höchststrafen in Eritrea zurück. Gegen die automatische Einstufung als Regimegegner und die Zuschreibung einer politischen Überzeugung spricht überdies, dass es eine große Bandbreite möglicher Sanktionierungsmaßnahmen für Personen gibt, die nach Eritrea zurückkehren, nachdem sie zuvor illegal ausgereist sind, um sich dem Nationaldienst zu entziehen. Insoweit reichen die Sanktionen von einer bloßen Belehrung und Ableistung des Nationaldienstes bis hin zu Haftstrafen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, November 2017, S. 19). Eine an eine vermeintliche politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern folgt auch nicht aus der willkürlichen und außergerichtlichen Inhaftierung. Vielmehr sind in Eritrea willkürliche Festnahmen ohne Haftbefehle und Angabe von Gründen auch in anderen Fällen üblich (vgl. Auswärtiges. Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, November 2017, S. 12), so dass sie weite Teile der Bevölkerung gleichermaßen treffen. Überdies lassen auch die unmenschlichen Haftbedingungen nicht auf eine - im Verhältnis zu anderen Straftätern in Eritrea - außergewöhnlich harte Bestrafung wegen einer politischen Überzeugung schließen. Die UN-Kommission beschreibt die Bedingungen in allen Gefängnissen in Eritrea als extrem hart. Zwar sollen in besonders schlimmen Haftanstalten häufig gerade solche Personen untergebracht werden, deren Vergehen die eritreischen Behörden als besonders schwer ansehen, hierzu sollen aber auch unpolitische Straftaten wie beispielsweise Schmuggel oder illegale Geldwechselgeschäfte gehören (vgl. UNHCHR, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry an Human Rights in Eritrea, 5. Juni 2015, S. 248 Abs. 890; VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 - 28 K 166.17 A -, juris). Nach alledem kann den Berichten eine an eine vermeintliche politische Gegnerschaft anknüpfende härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern nicht entnommen werden.

Zwar soll - wie der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung zutreffend eingewandt hat - die eritreische Regierung einen Schießbefehl bezüglich illegal ausreisender Personen erlassen haben und es auch aktuell noch zu Schüssen an der Grenze kommen. Selbst wenn man den Schießbefehl als Indiz für die Zuschreibung einer politischen Überzeugung ansehen wollte, würde dies jedoch dadurch relativiert, dass der Schießbefehl den aktuellen Berichten zufolge zumindest derzeit nicht mehr systematisch und weniger rigoros angewandt wird (vgl. SEM, Focus Eritrea - Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016, S. 30 m.w.N.).

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Flucht vor dem Nationaldienst in Eritrea zu einem Massenphänomen geworden ist. Nach jüngsten Schätzungen verlassen mehrere tausend Eritreer monatlich - dem Bericht des UNHCHR vom 5. Juni 2015 zufolge bis zu 5.000 - illegal ihr Land (vgl. UNHCHR, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 5. Juni 2015, S. 42 Abs. 15).

Bei einer Gesamtbevölkerung Eritreas von 5,2 Mio. waren Ende 2016 weltweit 459.400 eritreische Staatsangehörige als Flüchtlinge registriert (PRO ASYL, Eritrea: Ein Land im Griff einer Diktatur - Desertion, Flucht & Asyl, 3. Mai 2018, S. 9). Fluchtauslöser sind in erster Linie die grundsätzlich unbefristete Dauer des Nationaldienstes, die jedenfalls im Militär drohende Gefahr willkürlicher Bestrafung oder Misshandlung, der Arbeitseinsatz an von Heimat und Familie entfernten Orten, die kärgliche Entlohnung, die Unterdrückung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte sowie fehlende privatwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten und der damit einhergehende Verlust einer jeglichen Lebensperspektive (Amnesty International, Just Deserters: Why indefinite National Service in Eritrea has created a generation of refugees, revised edition 2016, S. 39). Konsequenzen dieses Abflusses von "Humankapital" sind erhebliche Kapazitätseinbußen des eritreischen Staates sowohl im militärischen als auch im zivilen Teil des Nationaldienstes (etwa in Krankenhäusern, Schulen, und der Verwaltung) sowie eine desolate wirtschaftliche Situation, die mittlerweile auch das Funktionieren des Staates tangiert (Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Januar 2017 - D-7898/2015 -, S. 26 (Nr. 4.8.4) m.w.N., abrufbar unter www.bvger.ch). Angesichts dessen kann nicht vernünftigerweise angenommen werden, der eritreische Staat werde (nach wie vor) gleichsam hinter jeder Flucht eines (National-) Dienstpflichtigen generell eine missliebige politische Überzeugung vermuten. Dies ist schon deshalb fernliegend, weil auch dem eritreischen Staat bekannt ist, dass die übergroße Zahl der Asylbewerber in erster Linie vor den prekären Lebensbedingungen im zeitlich unbefristeten Nationaldienst und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Gesinnung flieht (so auch VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 - 28 K 166.17 A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 9. November 2017 - 6 K 13718/16.A -, jeweils juris).

Auch der ideologische Stellenwert, den der Nationaldienst als "Schule der Nation" im eritreischen Staat einnimmt, lässt jedenfalls gegenwärtig nicht (mehr) den Rückschluss auf eine politische Zielrichtung der Sanktionierungsmaßnahmen zu. Gemäß Art. 5 der Nationaldienst-Proklamation von 1995 liegen die Ziele des Nationaldienstes darin,

"- eine starke Armee zu etablieren, um ein freies und unabhängiges Eritrea zu sichern;

- den Mut, die Entschlossenheit und das Heldentum, das unser Volk in den letzten dreißig Jahren gezeigt hat, zu erhalten und den künftigen Generationen weiterzugeben;

- eine Generation zu schaffen, die Arbeit und Disziplin liebt und am Wiederaufbau der Nation teilnehmen und dienen will;

- die Wirtschaft des Landes zu entwickeln durch Investitionen in die Entwicklung unseres Volkes als potentiellen Reichtum;

- das Gefühl der nationalen Einheit in unserem Volk zu stärken, um subnationale Gefühle zu eliminieren" (abgedruckt in European Asylum Support Office [EASO], EASO-Bericht über Herkunftsländer, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32).

Demzufolge dient der Nationaldienst nicht nur der Landesverteidigung, sondern auch dem Wiederaufbau des Landes nach dem Unabhängigkeitskrieg und der Vermittlung der nationalen Ideologie. Zwar besteht eine zentrale Aufgabe des Nationaldienstes darin, die während des Unabhängigkeitskrieges entstandenen sozialen Werte der jungen Generation und damit der eritreischen Gesellschaft weiterzugeben. Zu diesem Zweck werden sämtliche jungen Männer und Frauen des Landes einberufen und in einer gemeinsamen Sprache - Tigrinja - ausgebildet. Das 12. Schuljahr absolvieren alle Schüler zentral in einem Ausbildungslager in Sawa, wo sie unter anderem ideologisch geschult werden und eine paramilitärische Ausbildung erfahren. Am Ende des Nationaldienstes haben sie eine gemeinsame nationale Identität und ignorieren ihren religiösen, ethnischen und regionalen Hintergrund (European Asylum Support Office [EASO], EASO-Bericht über Herkunftsländer; Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32). Zunehmend in den Vordergrund tritt jedoch in Anbetracht der nunmehr jahrelang anhaltenden Massenflucht vorwiegend junger Leute, die zum wirtschaftlichen Aufbau des Landes dringend benötigt werden, die wirtschafts- und entwicklungspolitische Zielrichtung des Nationaldienstes (Wiederaufbau des Landes, wirtschaftlicher Fortschritt). So kommt unter anderem der UNHCHR zu dem Schluss, dass der Nationaldienst entgegen den mit der Proklamation ursprünglich verfolgten (politischen) Zielsetzungen heute in erster Linie der Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Begünstigung staatsnaher Unternehmen und der Aufrechterhaltung einer (völkerrechtswidrigen) Kontrolle des Staates über die Bevölkerung dient (UNHCHR, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry an Human Rights in Eritrea, 5. Juni 2015, S. 58 Abs. 234).

Aufgrund der vorstehenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der der Kammer vorliegenden Erkenntnisse steht zu deren Überzeugung fest, dass Eritreern, die sich durch ihre illegale Ausreise dem Nationaldienst entzogen haben, im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer ihnen zugeschriebenen politischen Gesinnung droht. Ob darüber hinaus auch die Deserteuren im Ausland eröffnete Möglichkeit, sich durch Zahlung einer "Diaspora- oder Aufbausteuer" und Unterzeichnung eines sog. "Reueschreibens" vor Bestrafung zu schützen, gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die sich dem Nationaldienst durch illegale Ausreise entzogen haben, spricht, weil der eritreische Staat damit zeige, dass er aus ökonomischen Interessen auf seinen Strafanspruch verzichte (so zum Beispiel VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 - 28 K 166.17 A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 9. November 2017 - 6 K 13718/16.A -, jeweils juris), kann daher im Ergebnis offen bleiben. [...]