VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - asyl.net: M26716
https://www.asyl.net/rsdb/M26716
Leitsatz:

Kein Schutzstatus oder Abschiebungsverbot für alleinstehenden und leistungsfähigen "faktischen Iraner":

"1. Ausgehend von dem in Afghanistan vorherrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt lässt sich für die afghanische Provinz Kabul im Oktober 2018 kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

2. Der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lässt sich nicht auf die in § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen (Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris, und Fortführung der Senatsrechtsprechung, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris).

3. Im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk sind bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können. Dies gilt auch für sogenannte "faktische Iraner" (Fortführung der Senatsrechtsprechung, Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 - und vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, extreme Gefahrenlage, Extremgefahr, Existenzgrundlage, Existenzminimum, junge Männer, junger Mann, alleinstehend, Herat, Kabul, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes, weil er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.

1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todes-strafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).

2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein (nachfolgend a) und b)). Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU (c)). [...]

3. Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen ebenfalls nicht vor.

a) Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. [...]

bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. [...]

Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris).

Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt wird. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). [...]

Für die Provinz Kabul lässt sich die erforderliche Gefahrendichte für die Annahme einer tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit nicht feststellen. Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Kabul, auch wenn diese beispielsweise im ersten Halbjahr 2017 die absolut höchste Zahl an zivilen Opfern aufweist, wegen der hohen Einwohnerzahl letztlich weit unterhalb der vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 % (dazu Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10). [...]

Angesichts des bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch im Übrigen nicht auf einen Anspruch des Klägers auf Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in der jeweiligen Provinz lässt sich nach Auffassung des Senats nicht feststellen, und zwar auch unter Berücksichtigung der allein im Jahr 2017 extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen (UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017) sowie der auch weiterhin hohen Zahl Binnenvertriebener in den ersten acht Monaten bis Anfang September 2018, nämlich über 206.000 Personen (UNOCHA, Afghanistan Weekly Field Report 27 August - 2 September 2018; Bericht über Binnenvertreibung und Entwicklung des Konflikts um Ghazni) und schließlich auch in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte (Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.).

Insgesamt ist es daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und der Zahl an verletzten oder getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Kabul nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.

Soweit die Sachverständige Stahlmann der Auffassung ist, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden (Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9), handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vor-behaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. [...]

II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).

1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür (a)) sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und derjenigen in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der persönlichen Situation des Klägers nicht erfüllt (d)).

a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. [...]

bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte als auch diejenige des Bundesverwaltungsgerichts (EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinig-tes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167) machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK "zwingend" sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnah-mesituation betont (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19).

Dabei lässt sich aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der zur Rechtfertigung der Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG geboten ist, nicht auf die in § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, sind die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragbar (BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 13 (zum Maßstab des § 60 Abs. 7 AufenthG); VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19). [...]

b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt: [...]

Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)), zumal wenn sie zuvor längere Zeit ihres Lebens im Iran verbracht hatten (ff)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (gg)). [...]

c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen:

aa) Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. [...]

bb) Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. [...]

cc) Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. [...]

dd) Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär. [...]

d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung gelangte der Senat nicht zu der Überzeugung, dass im Falle des Klägers nach den dargelegten Maßstäben ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen.

Der Senat hält an seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris) fest, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können. Er vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass die Bedingungen im Land einschließlich der Risiken für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland generell ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und damit die hohen Anforderungen für eine Verletzung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen. Denn das Schicksal eines solchen Rückkehrers - wie des hiesigen Klägers - lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit dahingehend prognostizieren, dass eine Abschiebung nach Kabul stets zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung namentlich des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte. [...]

2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger ebenfalls kein nationales Abschiebungsverbot. [...]