VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 16.10.2018 - 9 K 4662/17.TR - asyl.net: M26688
https://www.asyl.net/rsdb/M26688
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Mann aus Afghanistan wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs:

1. Einem jungen paschtunischen Mann, der eine intime Beziehung zu einer bereits verlobten Kommilitonin unterhielt und diese schwängerte (sog. Zina-Vergehen), droht bei Rückkehr eine unmenschliche Bestrafung durch die Familie der jungen Frau.

2. Eine interne Fluchtalternative in Afghanistan besteht nicht, da der junge Mann der ethnischen Minderheit der Qizilbash angehört und daher leicht zu identifizieren ist und zudem die Familie der Frau sehr einflussreich und wohlhabend ist. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Zina, nichtstaatliche Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, nichteheliches Kind, nichteheliche Beziehung, subsidiärer Schutz, interne Fluchtalternative, Qizilbash, Paschtunen, Familienehre, ausserehelicher Geschlechtsverkehr,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[…]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. […]

Es droht dem Kläger aber eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG. Dies folgt aus dem glaubhaften Vortrag des Klägers zu der Bedrohung durch die paschtunische Familie und der damit im Zusammenhang stehenden Lebensgefahr, die ihm vor seiner Ausreise aus Afghanistan unmittelbar gedroht hat. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erneut von der Familie (und damit von einem asylrechtlich relevanten Schaden) bedroht wird, sind nicht ersichtlich.

Anders als die Beklagt in ihrem Bescheid vom 22. März 2017 ausführt, ist der Vortrag des Klägers zu der von ihm geführten Beziehung, der daraus resultierenden Schwangerschaft und der anschließenden Bedrohung durch die Familie der jungen Frau nachvollziehbar, in sich stimmig und glaubhaft. […]

Endlich ist das Gericht davon überzeugt, dass die traditionsverhaftete, paschtunische Familie des jungen Mädchens in dem unehelichen Kind der bereits verlobten Tochter eine immense "Beschmutzung der Familienehre" sah und die angedrohte Rache für den Kläger eine unmittelbare Lebensgefahr darstellte. Die überwiegend in starren Stammesverbänden organisierte paschtunische Ethnie ist in besonderem Maße weiter den traditionellen Formen privater Strafjustiz verhaftet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31. Mai 2018, S. 12). Darüber hinaus kommt dem Scharia- und Stammesrecht nach wie vor große Bedeutung zu und werden insbesondere "Straftaten" in Zusammenhang mit außerehelichem Geschlechtsverkehr mit drakonischen Strafen bedacht (vgl. hierzu: Stahlmann, Gutachten Afghanistan vom 28. März 2018 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden, S. 150ff.). Für den Kläger bedeutet dies, dass sein Leben in Afghanistan vor seiner Ausreise in akuter Gefahr war und damit eine hinreichende Gefahrdichte vorlag, um die Beweislastumkehr des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie zu begründen.

Stichhaltige Gründe, die gegen einen erneuten Schaden sprächen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann der Kläger auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Sinne der §§ 4 Abs. 3 S. 1, 3e Abs. 1 AsylG verwiesen werden. Dabei geht das Gericht zwar durchaus davon aus, dass es in der Regel möglich ist, in Afghanistan - insbesondere in den Großstädten - anonym zu leben und Verfolgern, die nicht über landesweite Netzwerke verfügen, zu entgehen. Im Falle des Klägers greift dieser Grundsatz indes aus zwei Gründen nicht. Zum einen gehört er der überaus kleinen ethnischen Minderheit der Qizilbash an, die einerseits zwar überdurchschnittlich wohlhabend und politisch einflussreich sind, andererseits aufgrund ihrer turkmenischen Abstammung, ihrer schiitischen Religion und ihrer persischen Sprache allerdings auch leicht zu erkennen sind. Infolge der großen Bedeutung der Volkszugehörigkeit in Afghanistan kann infolgedessen nicht erwartet werden, dass es dem Kläger gelingen kann, seine Identität ohne weiteres geheim zu halten. Zum anderen ist das Gericht davon überzeugt, dass die Familie der jungen Frau einer einflussreichen paschtunischen Familie angehört. Dies ergibt sich insbesondere auch schon daraus, dass sie die mit einem Universitätsbesuch einhergehenden Kosten stemmen konnten. Nach alledem kann dem Kläger nicht zugemutet werden, in einen anderen Landesteil von Afghanistan zu reisen und dort auf die Anonymität seines Aufenthalts zu hoffen. […]