OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 02.08.2018 - 8 ME 42/18 - asyl.net: M26669
https://www.asyl.net/rsdb/M26669
Leitsatz:

1. Der Übergang der Verantwortung gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge steht der Abschiebung in den Staat, der einen Reiseausweis für Flüchtlinge erteilt hat, nicht entgegen, wenn dieser Staat der Wiederaufnahme trotz des verspäteten Wiederaufnahmeantrags zustimmt.

2. Der Flüchtling kann aus dem Ablauf der Frist des Art. 4 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge keine Rechte herleiten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, subjektives Recht, Frist, erlaubter Aufenthalt, Reiseausweis für Flüchtlinge, Übergang der Verantwortung, Abschiebung, Abschiebungshindernis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Rumänien,
Normen: GFK Art. 28, EATRR Art. 2, EATRR Art. 8 Abs. 2, EATRR Art. 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

32 bb. Ein Abschiebungshindernis ergibt sich nicht aus Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention (vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II S. 560 - GK) i.V.m. § 11 des Anhangs zur GK. Wechselt ein Flüchtling seinen Wohnort oder lässt er sich rechtmäßig im Gebiet eines anderen vertragschließenden Staates nieder, so geht nach der zuletzt genannten Vorschrift gemäß Art. 28 GK die Verantwortung für die Ausstellung eines neuen Ausweises auf die zuständige Behörde desjenigen Gebietes über, bei welcher der Flüchtling seinen Antrag zu stellen berechtigt ist.

33 Rechtmäßiger Aufenthalt im Hoheitsgebiet beinhaltet eine besondere Beziehung des Betroffenen zu dem Vertragsstaat durch eine mit dessen Zustimmung begründete Aufenthaltsverfestigung. Es genügt nicht die faktische Anwesenheit, selbst wenn sie dem Vertragsstaat bekannt ist und von diesem hingenommen wird. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Aufenthalt eines Ausländers grundsätzlich nur dann rechtmäßig, wenn er von der zuständigen Ausländerbehörde erlaubt worden ist. Die bloße Anwesenheit des Ausländers, mag sie auch von der Behörde hingenommen werden, genügt mithin nach deutschem Recht unabhängig von ihrer Dauer nicht für einen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.6.1991 - 1 C 42.88 -, BVerwGE 88, 254, juris Rn. 36 f.; v. 17.3.2004 - 1 C 1.03 -, BVerwGE 120, 206, juris Rn. 19 f.).

34 Die Antragsteller halten sich nicht in diesem Sinne rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Ihr Aufenthalt war während des Asylverfahrens gestattet und wird seither geduldet.

35 cc. Die Abschiebung ist nicht wegen eines Verantwortungsübergangs nach dem EATRR unmöglich. Dabei kann offen bleiben, ob die Bundesrepublik Deutschland die flüchtlingsrechtliche Verantwortung derzeit nicht trägt oder ob eine solche Verantwortung neben derjenigen Rumäniens besteht. In beiden Fällen ist der deutsche Staat nicht auf der Grundlage des EATRR verpflichtet, den Antragstellern den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.

36 (1) Die Verantwortung ist nicht nach Art. 2 Abs. 1 Var. 1 EATRR auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach dieser Vorschrift gilt die Verantwortung nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden als  übergegangen. Es fehlt an der Zustimmung der deutschen Behörden. Daher kann offen bleiben, ob es eines erlaubten Aufenthalts i.S.d. Art. 28 GK i.V.m. § 11 des Anhangs zur GK bedarf (so BayVGH, Beschl. v. 27.10.2004 - 10 CS 04.2158 -, juris Rn. 5; a.A. SächsOVG, Beschl. v. 12.4.2016 - 3 B 7/16 -, NVwZ 2017, 244, juris Rn. 14). Eine Zustimmung setzt zumindest voraus, dass die stillschweigende Billigung des Zweitstaates für den dauerhaften Aufenthalt des Flüchtlings vorliegt (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 12.4.2016 - 3 B 7/16 -, NVwZ 2017, 244, juris Rn. 14; vgl. auch Erläuternder Bericht zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (im Folgenden: Erläuternder Bericht), BT-Drs. 12/6852, S. 17, Rn. 21: nicht unbedingt durch einen formalen Akt).

37 Deutsche Behörden haben einen dauerhaften Aufenthalt der Antragsteller nicht stillschweigend gebilligt. Das Bundesamt hat zunächst ein persönliches Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens durchgeführt und bereits dadurch zu erkennen gegeben, dass eine Aufenthaltsbeendigung in Erwägung gezogen werde. Mit dem Bescheid vom 25. März 2015 hat es die Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen und die Abschiebung angedroht. Die Ausländerbehörde hat die Antragsteller während des Gerichtsverfahrens und zur Vorbereitung der Überstellung nach Rumänien geduldet und diese Zwecke der Duldung auch in Schreiben an den Bevollmächtigten der Antragsteller kundgemacht.

38 (2) Ein Verantwortungsübergang nach Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EATRR ist zunächst erfolgt.

39 Art. 2 Abs. 3 EATRR bestimmt, dass die Verantwortung auch dann als übergegangen gilt, wenn die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 EATRR nicht mehr beantragt werden kann. Gemäß Art. 4 Abs. 1 EATRR wird der Flüchtling, solange die Verantwortung nicht nach Art. 2 Abs. 1 und 2 EATRR übergegangen ist, jederzeit im Hoheitsgebiet des Erststaats wieder aufgenommen, selbst nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises. In letzterem Fall erfolgt die Wiederaufnahme auf einfachen Antrag des Zweitstaats unter der Bedingung, dass der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises gestellt wird.

40 Die Wiederaufnahme der Antragsteller konnte nicht mehr beantragt werden. Der Antrag war verspätet. Die Gültigkeitsdauer der rumänischen Reisedokumente der Antragsteller zu 2. bis 4. endete am 11. November 2015; die rumänische Behörde hat mitgeteilt, dass sie nicht verlängert wurden. Das Reisedokument des Antragstellers zu 1. trug eine niedrigere Seriennummer, so dass davon auszugehen ist, dass es früher ausgestellt wurde und seine Gültigkeit früher endete. Das Aufnahmeersuchen wurde - trotz der deutlich früheren Veranlassung durch den Antragsgegner gegenüber dem Bundespolizeipräsidium - erst durch Schreiben vom 19. Oktober 2016 an die rumänischen Behörden übermittelt und hielt die Sechs-Monats-Frist nicht ein. Bestimmungen, aus denen sich eine Hemmung der Frist insbesondere durch das gerichtliche Verfahren ergeben könnte, bestehen nicht. Insbesondere ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. c) EATRR nach Wortlaut und Systematik nur auf die Fälle des Art. 2 Abs. 1 EATRR anwendbar.

41 Rechtsfolge des Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EATRR ist der Übergang der Verantwortung. Er ist dann als erfolgt anzusehen, wenn der in Art. 4 Abs. 1 EATRR bestimmte Zeitraum abgelaufen ist (vgl. Erläuternder Bericht, BT-Drs. 12/6852, S. 17, Rn. 24, 29).

42 (3) Die Verantwortung ist aber zurück auf Rumänien übergegangen.

43 Ebenso, wie die Verantwortung nach den Bestimmungen des EATRR auf den nächsten Zweitstaat weiter übergehen kann, kann sie bei Vorliegen der Voraussetzungen auch auf den Erststaat zurück übergehen. Das ist durch die Zustimmung Rumäniens zu dem verspäteten Aufnahmeersuchen erfolgt.

44 Rechtsgrundlage des Rückübergangs ist Art. 8 Abs. 2 EATRR. Danach ist das Übereinkommen nicht  so auszulegen, als hindere es eine Vertragspartei, die Vorteile des Übereinkommens auf Personen zu erstrecken, welche die festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllen.

45 Der Erststaat hat demzufolge die Möglichkeit, den Flüchtling nach Ablauf des für den Übergang der Verantwortung erforderlichen Zeitraums erneut in sein Staatsgebiet zuzulassen und seinen Reiseausweis zu erneuern (vgl. Erläuternder Bericht, BT-Drs. 12/6852, S. 17, Rn. 35). Soweit der erläuternde Bericht in diesem Zusammenhang eine Berücksichtigung der Wünsche des Flüchtlings voraussetzt, handelt es sich nicht um ein Tatbestandsmerkmal. Der vorgesehene Vorteil besteht im erkennbaren Vorhandensein eines Staates, der für die Erteilung des Reiseausweises für Flüchtlinge die Verantwortung trägt. Diesbezügliche Auslegungsschwierigkeiten in Fällen der Weiterwanderung sollte das EATRR beseitigen (vgl. Erläuternder Bericht, BT-Drs. 12/6852, S. 17, Rn. 10). Diesem Zweck dient auch der Rückübergang der Verantwortung auf den Erststaat nach einem ohne den Willen des Zweitstaats erfolgten Verantwortungsübergang gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 EATRR. Vorgesehener Vorteil ist demgegenüber nicht die Unterstützung eines Weiterwanderungswunsches des Flüchtlings, dem der Zweitstaat nicht zugestimmt hat.

46 Rechte des Flüchtlings werden durch den Rückübergang der Verantwortung auf den Erststaat nicht verletzt. Der Flüchtling kann aus dem Ablauf der Frist des Art. 4 Abs. 1 EATRR keine Rechte herleiten. Dieses 1980 entworfene Übereinkommen steht in der Tradition der Mediatisierung des Einzelnen im Völkerrecht (vgl. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 7 Rn. 1 ff.). Geregelt wurden Rechtsbeziehungen der Vertragsstaaten untereinander. Diese beseitigten Unstimmigkeiten über die Auslegung des Art. 28 GK i.V.m. §§ 6, 11 des Anhangs zur GK. Damit wurden organisatorische Regelungen geschaffen, die dazu dienten, schnell Klarheit über den verantwortlichen Staat und den Übergang der Verantwortlichkeit zu erhalten. Dass dabei im Hinblick auf die Übernahme der Verantwortung Flexibilität besteht, besagt neben Art. 8 Abs. 2 EATRR selbst auch Art. 2 Abs. 1 Var. 2 und 3 EATRR, wonach der Zweitstaat durch die Festlegung der Aufenthaltsdauer einen früheren Verantwortungsübergang als nach Art. 2 Abs. 1 Var. 1 EATRR herbeiführen kann. Ein Rechtsbehelf wird dem Einzelnen nicht eingeräumt. Nur zwischen den Vertragsstaaten sind bei Auslegungsschwierigkeiten Konsultationen und nachrangig ein Schiedsverfahren vorgesehen (Art. 15 EATRR). Die Rechtslage entspricht damit weitgehend derjenigen unter dem ursprünglich völkerrechtlichen Dublin-Übereinkommen (Übereinkommen vom 15.6.1990 über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags, BGBl. 1994 II, S. 791) und den Verordnungen bis zur Dublin-II-Verordnung (VO (EG) 343/2003; vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12 -, NVwZ 2014, 208, juris Rn. 49 ff.; BVerwG, Urt. v. 27.10.2015 - 1 C 32/14 -, BVerwGE 153, 162, juris Rn. 19 f.). Erst die Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten durch Erwägungsgrund 19 der Dublin-III-Verordnung hat es dem Einzelnen ermöglicht, sich auf die Verletzung der Zuständigkeitskriterien zu berufen (vgl. EuGH, Urt. v. 7.6.2016 - C-63/15 -, NVwZ 2016, 1157, juris Rn. 30 ff.). [...]