VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 18.09.2018 - 1 B 296/17 - asyl.net: M26664
https://www.asyl.net/rsdb/M26664
Leitsatz:

Schwerwiegendes Bleibeinteresse für Personen, die mit deutschen Staatsangehörigen als Familie zusammenleben:

Die von einem Deutschen abgeleitete deutsche Staatsangehörigkeit eines Kindes, das mit einem Ausländer und seiner ebenfalls ausländischen Mutter in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, begründet für den Ausländer ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, auch wenn die Ausländer­behörde davon ausgeht, dass die Vaterschaftsanerkennung missbräuchlich und der Ausländer der biologische Vater des Kindes ist. Das gilt selbst dann, wenn das Kind neben der deutschen auch die von der Mutter abgeleitete ausländische Staatsangehörigkeit hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: deutsches Kind, Vaterschaftsanerkennung, Ausweisung, Scheinvaterschaft, Bleibeinteresse, Ausweisungsinteresse, Ermessen, Vaterschaftsanfechtung, keine behördliche Vaterschaftanfechtung, kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, deutsche Staatsangehörigkeit,
Normen: StAG § 4 Abs. 1 S. 1, StAG § 17 Abs. 2, StAG § 17 Abs. 3, AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

31 aa. Das Kind O. ist deutscher Staatsangehöriger. Ein Kind erwirbt durch die Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil deutscher Staatsangehöriger ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Staatsangehörigkeitsgesetz – StAG –). Dabei kommt es bei der Mutter von vornherein allein auf die biologische Abstammung an. Als Vater bestimmt das Bürgerliche Gesetzbuch – BGB – den Ehemann der Mutter oder den Mann, der die Vaterschaft anerkannt hat oder dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wird (§ 1592 BGB, § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG). Die wirksame Vaterschaftsanerkennung setzt dabei nicht voraus, dass der Anerkennende der biologische Vater des Kindes ist. Es genügt die (öffentlich beurkundete) Erklärung (§ 1597 Abs. 1 BGB), die lediglich der Zustimmung der Mutter bedarf (§ 1595 BGB). Diese Voraussetzungen liegen vor.

32 Von der deutschen Staatsangehörigkeit hat der Antragsgegner auszugehen, auch wenn er davon überzeugt ist, dass sie von dem Antragsteller und dessen Lebensgefährtin in kollusivem Zusammenwirken mit dem deutschen Staatsangehörigen ... allein zur Begründung eines Aufenthaltsrechts für den Antragsteller, seine Lebensgefährtin und möglicherweise weiterer Kinder erwirkt worden ist. Bis zur Rechtskraft eines auf Anfechtung hin ergehenden Urteils, mit dem festgestellt wird, dass die Vaterschaft nicht besteht, liegt die Vaterschaft des anerkennenden Vaters im Rechtssinne vor. Es liegt keine Scheinvaterschaft vor; die von dieser Vaterschaft abgeleitete deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes ist keine Scheinstaatsangehörigkeit, sondern eine echte Staatsangehörigkeit (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.10.2006 – 2 BvR 696/04 – juris Rn. 12, zu § 1592 Nr. 1 BGB).

33 Der Antragsgegner kann auch nicht erwarten, dass sich die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes O. in Zukunft beseitigen lassen wird.

34 Zum einen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der anerkennende Vater ... oder die Lebensgefährtin des Antragstellers als Mutter des Kindes die Vaterschaft anfechten werden (§§ 1598a, 1599, 1600 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3 BGB). Zum anderen hat der Antragsgegner selbst keine Handhabe gegen die Vaterschaftsanerkennung durch .... Eine Beseitigung der Vaterschaftsanerkennung durch die behördliche Vaterschaftsanfechtung, wie sie § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB vorsah, wurde durch das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 6/10 – BVerfGE 135, 48 ff., juris) für verfassungswidrig erklärt, weil sie in der konkreten Ausgestaltung gegen Art. 16 Abs. 1 GG verstieß. Auch aus dem am 29.07.2017 in Kraft getretenen § 1597a BGB (BGBl. I, S. 2780) ergibt sich für den vorliegenden Fall nichts Anderes. Die Regelung, die ein Verbot missbräuchlicher Vaterschaftsanerkennungen enthält, sieht vor, dass die beurkundende Behörde in Verdachtsfällen die Beurkundung aussetzt und die Ausländerbehörde informiert, die wiederum nach § 85a AufenthG entscheidet, ob ein solcher Fall vorliegt. Abgeschlossene Fälle wie den der Anerkennung der Vaterschaft des Kindes O. durch R. Q. erfasst die Neuregelung nicht.

35 Schließlich schließt § 17 Abs. 2, 3 StAG den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit u.a. bei der Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft nach § 1599 BGB aus, wenn der Betroffene das fünfte Lebensjahr vollendet hat. Das Kind O. wird im Juni 2019 das fünfte Lebensjahr vollenden.

36 bb. Der vom Antragsgegner angenommene Umstand, dass das Kind O. neben der deutschen Staatsangehörigkeit möglicherweise eine von der Mutter abgeleitete mazedonische Staatsangehörigkeit besitzt, schließt die Anwendung von § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG schon nach dessen Wortlaut nicht aus. Insbesondere darf der Antragsgegner das Kind ... nicht auf ein gemeinsames Leben mit der Mutter und dem Antragsteller sowie den (übrigen) Kindern des Paares in Mazedonien verweisen. Die weitere Staatsangehörigkeit des Kindes O. führt nicht zu einer Beschränkung der Rechtswirkungen seiner deutschen Staatsangehörigkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2012 – 10 C 12.12 -, juris Rn. 30, zu den Anforderungen beim Ehegattennachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen). Dazu zählt insbesondere das Recht auf Aufenthalt in Deutschland nach Art. 11 GG, der auch Minderjährige schützt (Durner, in: Maunz/Dürig, GG, 82. EL Januar 2018, Art. 11 Rn. 58).

37 Es dürfte sich auch als europarechtswidrig erweisen, das Kind ... faktisch zur Ausreise aus dem Unionsgebiet zu zwingen, um mit der Mutter und dem Antragsteller weiter im Familienverbund leben zu können (vgl. EuGH, Urt. v. 08.03.2011, Ruiz Zambrano, - C-34/09 -, juris Rn. 43 und 44, zuletzt zu einem straffällig gewordenen Ausländer EuGH, CS, Urt. v. 13.09.2016 – C-304/14 –, juris Rn. 26, 29 m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH). [...]