SG Magdeburg

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Zitieren als:
SG Magdeburg, Beschluss vom 30.09.2018 - S 25 AY 21/18 ER - asyl.net: M26641
https://www.asyl.net/rsdb/M26641
Leitsatz:

Keine Leistungskürzung für in Griechenland international Schutzberechtigte:

1. Der Bescheid über die Leistungseinschränkung ist schon wegen der fehlenden Befristung nach § 14 AsylbLG rechtswidrig. Es ist zweifelhaft, ob eine rückwirkende Befristung überhaupt möglich ist (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.06.2018 - L 9 AY 1/18 B ER).

2. Eine Anspruchseinschränkung besteht dann nicht, wenn die Ausreise aus Gründen, die die leistungsberechtigte Person nicht selbst zu vertreten hat, nicht möglich ist. Eine Ausreise nach Griechenland ist derzeit einer Familie unzumutbar, da für diese Personengruppe wahrscheinlich ein Abschiebungsverbot besteht.

3. Schließlich bestehen auch grundsätzliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Kürzungen nach § 1a AsylbLG auf das physische Existenzminimum.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, internationaler Schutz in EU-Staat, Mitwirkungspflicht,
Normen: AsylbLG § 14 Abs. 1, AsylbLG § 1a, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[…]

Erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen bereits aufgrund der fehlenden Befristung gem. § 14 Abs. 1 AsylbLG. Die unbefristete Anspruchseinschränkung gem. § 1a AsylbLG im angegriffenen Bescheid entspricht nicht der eindeutigen Gesetzeslage. Nach § 14 Abs. 1 AsylbLG sind die Anspruchseinschränkungen nach diesem Gesetz auf sechs Monate zu befristen. Eine solche Befristung ist jedoch im Bescheid vom 25.07.2018 nicht erfolgt, was zur Rechtswidrigkeit des Bescheides führt (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 19. März 2018 - L 18 AY 7/18 B ER - juris Rn. 24 sowie LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21. Juni 2018 - L 9 AY 1/18 B ER -, juris Rn. 47). Zwar kündigte der Antragsgegner an, die Befristung nachzuholen und damit den Bescheid nachträglich zu "korrigieren", bis zur hiesigen Entscheidung ist dies jedoch nach Kenntnis der Kammer bislang nicht erfolgt. Zudem bestehen Zweifel, ob das unter Beibehaltung des Eintrittsdatums der Leistungseinschränkung und damit rückwirkend überhaupt möglich ist (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21. Juni 2018 - L 9 AY 1/18 B ER -, juris Rn. 47). Vielmehr spricht gegen eine Heilung ex tunc, dass eine Einbeziehung des AsylbLG in den Anwendungsbereich des SGB 1 und des SGB X ausgeschlossen ist, da es in der Aufzählung des § 68 SGB 1 nicht auftaucht (vgl. Gerlach, Asylbewerberleistungsgesetz (Teil 1), SGb 2018, 333, 334). Auch § 9 AsylbLG verweist nicht auf § 41 SGB X, so dass im Ergebnis als "Heilungsvorschrift" § 45 VwVfG allein Anwendung finden dürfte. Hierbei handelt es sich um eine abschließende Aufzählung, in welcher jedoch das Problem der fehlenden Befristung nicht umfasst ist.

Letztendlich braucht die Kammer diese Rechtsfrage jedoch nicht abschließend zu klären, da - wie bereits ausgeführt - eine (wenn auch nachträgliche) Befristung seitens des Antragsgegners bislang nicht erfolgte.

Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 25.07.2018 bestehen auch hinsichtlich der vom Antragsgegner vorgenommenen Auslegung des § 1a Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 2 AsylbLG als Rechtsfolgenverweisung. Dem Antragsgegner ist zwar zuzugeben, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG für eine Leistungseinschränkung vorliegen: unstreitig ist den Antragsstellern in Griechenland internationaler Schutz gewährt wurden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass dieser Schutz mittlerweile entfallen ist. Eine Pflichtverletzung der Antragsteller lag damit bereits mit der Einreise vor. Jedoch dürfte die Regelung des § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG nicht nur auf die Rechtsfolgen des § 1a Abs. 2 S. 2 AsylbLG verweisen, sondern auch auf die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen. Eine Anspruchseinschränkung besteht also dann nicht, wenn die Ausreise aus Gründen, die die Antragsteller nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden kann. Eine freiwillige Ausreise ist den Antragstellern dann nicht zuzumuten. Zwar besteht (noch) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, da das VG Magdeburg in der mündlichen Verhandlung am 25.09.2018 noch kein Urteil gesprochen hat, allerdings ist nicht ganz abwegig, dass ein solches Abschiebungsverbot hinsichtlich Griechenland auch im vorliegenden Fall festgestellt wird, nachdem die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Magdeburg bereits am 04.09.2018 in einem gleichgelagerten Fall ein solches aussprach. Sofern eine Abschiebung ausgeschlossen ist, kann jedoch auch eine freiwillige Ausreise nicht verlangt werden, so dass die Antragsteller unverschuldet an der Ausreise gehindert sind. (vgl. SG Lüneburg, Beschluss vom 12.09.2017, Az. S 26 AY 35/17 ER). Nur mit dieser so verstandenen Auslegung des Gesetzes lässt sich das Gesetz verfassungskonform auslegen.

In Rechtsprechung und Literatur bestehen nämlich erhebliche Zweifel, ob durch die Leistungseinschränkung des § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG auf das physische Existenzminimum der verfassungsrechtliche Anspruch auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG noch gewährleistet ist (vgl. SG Lüneburg, Beschluss vom 12.09.2017, S 26 AY 35/17 ER, SG Stade, Beschluss vom 10.5.2017, S 19 AY 19/17 ER, Kanalan, NZS 2018, 641-646, Janda, SGb 2018, 344-350; Voigt, Asylmagazin 2017, 436-446; Oppermann, ZESAR 2017, 55-62). Bei der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums handelt es sich um ein Menschenrecht, welches deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zusteht. Insofern muss ein Leistungsanspruch eingeräumt werden (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11). Migrationspolitische Erwägungen rechtfertigen nicht das Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, Az. 1 BvL 10/10). Über die vorliegende Frage, inwiefern Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG verfassungsmäßig sind, ist derzeit eine Verfassungsbeschwerde anhängig (Az. 1 BvR 2682/17).

Sollte das Bundesverfassungsgericht die abgesenkten Leistungen für evident unzureichend halten, würde es selbst einen höheren Wert vorgeben oder die Rechtsfolge der Vorschrift verwerfen, so dass dies auch Auswirkungen auf ein eventuelles Hauptsacheverfahren hätte. […]