BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 19.07.2018 - V ZB 223/17 - asyl.net: M26579
https://www.asyl.net/rsdb/M26579
Leitsatz:

Zum Umfang des Akteneinsichtsrechts in Abschiebungshaftverfahren:

1. Das Akteneinsichtsrecht in Abschiebungshaftverfahren bezieht sich auch auf die Ausländerakte.

2. Wurde von der betroffenen Person Einsicht in die Ausländerakte beantragt und angekündigt, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde nicht zurückweisen, bevor es die Einsicht gewährt hat.

3. Das Beschwerdegericht selbst muss grundsätzlich die Ausländerakte beiziehen, um eine sachlich gebotene Entscheidung treffen zu können. Es darf insbesondere für die Einsicht in die Ausländerakte nicht an die Ausländerbehörde verweisen.

4. Eine Rechtsbeschwerde gegen eine unter Verletzung des Akteneinsichtsrechts ergangene Haftanordnung kann trotzdem unbegründet sein, wenn die Beschwerdeentscheidung nicht auf dem gerügten Mangel beruht (so hier).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ausländerakte, Akteneinsicht, rechtliches Gehör, Amtsermittlungspflicht, Haftbeschwerde,
Normen: FamFG § 62, GG Art. 103 Abs. 1, FamFG § 13, FamFG § 417 Abs. 2 S. 3, FamFG § 26,
Auszüge:

[…]

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde hat im Ergebnis keinen Erfolg.

1. Allerdings rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Beschwerdegericht über die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde nicht vor Gewährung der Einsicht in die Ausländerakte und vor Eingang der angekündigten Beschwerdebegründung hätte entscheiden dürfen.

a) Wenn sich ein Beschwerdeführer ausdrücklich die Begründung seiner Beschwerde vorbehalten hat, muss das Gericht mit einer der Beschwerde nicht stattgebenden Entscheidung eine angemessene Zeit warten, sofern es für die Begründung keine Frist (§ 65 Abs. 2 FamFG) gesetzt hat (vgl. zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 2. März 2017 - V ZB 138/16, InfAuslR 2017, 289 Rn. 10). Dies folgt aus dem Verfassungsgebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, welches gewährleistet, dass ein Verfahrensbeteiligter Gelegenheit erhält, durch seinen Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. […].

b) Beantragt der Beschwerdeführer Einsicht in die Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Einsicht in die Ausländerakte gewährt hat. Es darf den Betroffenen wegen der Akteneinsicht nicht an die Ausländerbehörde verweisen. […]

bb) Auch das Beschwerdegericht muss bei der Entscheidung über die Beschwerde in Freiheitsentziehungsverfahren regelmäßig die Ausländerakte beiziehen, um die sachlich gebotene Entscheidung zu treffen. Es tritt in den Grenzen der Beschwerde als Tatsacheninstanz an die Stelle des erstinstanzlichen Gerichts (Senat, Beschluss vom 12. Mai 2016 - V ZB 25/16, juris Rn. 7; Beschluss vom 8. März 2007 - V ZB 149/06, NJW-RR 2007, 1569 Rn. 10), und das Beschwerdeverfahren ist als volle Tatsacheninstanz ausgestaltet. Dabei hat das Beschwerdegericht dem Beschwerdeführer ein Ausmaß an Gehör zu eröffnen, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden (vgl. BVerfG, NZS 2011, 133 Rn. 14; Senat, Beschluss vom 14. Februar 2012 - V ZB 4/12, juris Rn. 5). Diesem Gebot handelt es zuwider, wenn es dem Beschwerdeführer nicht die beantragte Einsicht in die Ausländerakte gewährt. Hat das Amtsgericht die Beschwerde dem Beschwerdegericht vorgelegt (§ 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 FamFG), ohne die Ausländerakte beizufügen, weil diese nicht oder nicht mehr vorlag, muss das Beschwerdegericht deshalb die Ausländerakte bei der Ausländerbehörde anfordern, um die beantragte Einsicht gewähren zu können und seiner eigenen Amtsermittlungspflicht nachzukommen (§ 26 FamFG). [...]

2. Gleichwohl ist die Rechtsbeschwerde nicht begründet. Sie legt zwar nach Einsichtnahme in die im Rahmen des Rechtsbeschwerdeverfahrens vorgelegte Ausländerakte dar, was der Betroffene im Fall einer im Beschwerdeverfahren erteilten Einsicht in die Akte vorgetragen hätte. Auf dem gerügten Mangel beruht die Beschwerdeentscheidung jedoch nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 2. März 2017 - V ZB 138/16, lnfAuslR 2017, 289 Rn. 13; Beschluss vom 15. Juli 2010 - V ZB 10/10, NVwZ 2011, 127 Rn. 19).

a) Entgegen der Ansicht des Betroffenen durfte die Haft schon vor der Befristung der Wirkungen der der Abschiebung zugrunde liegenden Ausweisung vom 7. September 2011 angeordnet werden. Im Rahmen der amtswegigen Aufklärung des Sachverhalts gemäß § 26 FamFG sind Nachforschungen, ob der rechtzeitige Erlass einer Befristungsentscheidung sichergestellt ist, nur veranlasst, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die zuständigen Stellen die Befristung des Einreiseverbots erwägen oder der Betroffene auf eine solche Befristung dringt (vgl. näher Senat, Beschluss vom 29. Juni 2017 - V ZB 40/16, InfAuslR 2017, 450 Rn. 19). [...]