VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 07.06.2018 - 5 K 6688/17.A - asyl.net: M26557
https://www.asyl.net/rsdb/M26557
Leitsatz:

Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG für einen 21-jährigen Afghanen, der lange im Iran gelebt hat, keine Familienangehörige in Afghanistan hat und sich voraussichtlich bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund fehlender Reife keine Existenzgrundlage schaffen können wird.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, Hazara, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3,
Auszüge:

M26557, VG Köln, Urteil vom 07.06.2018 - 5 K 6688/17.A

Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG für einen 21-jährigen Afghanen, der lange im Iran gelebt hat, keine Familienangehörige in Afghanistan hat und sich voraussichtlich bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund fehlender Reife keine Existenzgrundlage schaffen können wird.

(Leitsatz der Redaktion)
Schlagwörter: Afghanistan, Iran, Hazara, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3,

[...]
Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass-der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. [...]

Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, zitiert nach juris m.w. N.). [...]

Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul. [...]

Zusätzlichen Herausforderungen sehen sich Rückkehrer mit afghanischer Staatsangehörigkeit gegenüber, die vor ihrem Aufbruch nach Europa lange Zeit im benachbarten Ausland Afghanistans - nämlich typischerweise im Iran - gelebt haben oder sogar dort geboren sind (vgl. zu dieser Konstellation in Fällen von alleinstehenden jungen Männern die Rechtsprechung des BayVGH, u.a. Urteil. vom 12.02.2015 - 13a B 14.30309 -, juris; Beschlüsse vom 27.07.2016 - 13a ZB 16.30051- und vom 15.06.2016 - 13a ZB 16.30033). [...]

Für Afghanen, die lange im Iran gelebt haben, die dort in jungen Jahren angekommen oder die dort geboren sind, wird berichtet, dass diese nach einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund der Prägung durch die Kultur Irans mit den lokalen Gepflogenheiten nicht vertraut waren und als "fremd" betrachtet wurden, zumal die eher heterogene, sunnitisch geprägte afghanische Kultur mit der eher konservativen schiitischen Kultur im Iran nicht zu vergleichen sei. Insbesondere wenn sie wegen des in der Vergangenheit gesprochenen iranischen Farsi (und nicht des eng verwandten, westafghanischen Dari) einen als fremd empfundenen Akzent aufgewiesen hatten und deswegen unmittelbar als anders erkannt worden waren, sahen sie sich bei der Arbeits- und Wohnungssuche erheblichen Hürden gegenüber. [...]

Haben die Rückkehrer mit langjährigem Aufenthalt im Iran keine familiären Bindungen mehr, weil die übrige Familie selbst geflohen oder ausgereist ist oder es wegen der langen Abwesenheit keinen Kontakt mehr gab und gibt, sehen sie sich oft der bereits allgemein geschilderten Problematik gegenüber, dass in Afghanistan in sämtlichen Lebensbereichen Netzwerke erforderlich sind, ohne die eine "Wiedereingliederung" in die afghanische Gesellschaft jedenfalls erheblich erschwert ist.

Vor diesem Hintergrund hält die Kammer zwar weiterhin an ihrer Rechtsprechung fest, dass gesunde, leistungsfähige junge Männer auch ohne soziales Netzwerk grundsätzlich in Kabul, aber auch in Mazar-i- Sharif oder Herat ein zwar erbärmliches, aber noch nicht in Verletzung von Artikel 3 EMRK stehende Existenz aufbauen können. Dazu bedarf es aber Feststellungen im Einzelfall. Dabei stützt sich das Gericht im Einklang mit der Rechtsprechung der Obergerichte maßgeblich auf die Einschätzung des UNHCR, nach der alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige junge Männer unter bestimmten Umständen und nach Würdigung des Einzelfalls auch ohne Unterstützung durch ein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in urbanen und semi-urbanen Gebieten, die über die notwendige Infrastruktur und Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung verfügen, leben können (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 191 April 2016, S. 99; eingeschränkt durch: UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern. Dezember 2016. S. 2 f.; zur Rechtsprechung der Obergerichte vgl. Stellvertretend: OVG NRW, zuletzt mit Beschluss vom 08.09.2017 - 13 A 2078/17.A -, juris Rn. 10; BayVGH, Beschluss vom 22.12.2016 - 13a ZB 16.30684 -, juris Rn. 6, OVG Niedersachsen, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris Rn: 77).

Im vorliegenden Einzelfall ist die Kammer nicht überzeugt, dass der Kläger, der schiitischer Hazara ist, seit seinem dritten Lebensjahr im Iran gelebt hat und Persisch mit iranischem Akzent spricht, und außer einer unbekannten Tante über keine Familie in Afghanistan verfügt, ohne Verletzung von Artikel 3 EMRK nach Kabul oder in andere Großstädte des Landes, die sicher (auf dem Luftweg) zu erreichen sind, zurückgeführt werden kann.

Der Kläger, der auf die Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, offen, direkt, ohne Zögern und ohne Umschweife geantwortet hat, machte auf die Vorsitzende trotz seines offiziellen Alters von 21 Jahren einen deutlich jugendlichen, fast kindlichen Eindruck: Er unterschied sich damit deutlich von etwa gleichaltrigen afghanischen Klägern, die die Kammer sonst kennenlernt. Die Schilderung seiner Flucht, seine Verzweiflung, als die Eltern mit den Geschwistern nicht folgten, waren äußerst glaubhaft. Entscheidend für die Prognose des Gerichts, dass der Kläger mit einer Organisation eines afghanischen Lebens völlig überfordert wäre, ist das Indiz, dass der Kläger, nachdem er seine Eltern verloren hatte, also in einer verzweifelten Situation, im türkischen Grenzgebiet von einer anderen Familie mit Kleinkindern, die Unterstützung brauchen, aber auch Schutz anbieten konnten, quasi "mitgenommen" wurde.

Hinzu kommt, dass der Kläger bislang, außer seinen schnell und gut erworbenen mündlichen Deutschkenntnissen über keine Qualifikationen verfügt, die ihm eine Eingliederung in Kabul erleichterten. Er verfügt über keine relevante Schulbildung und kann Dari/Farsi nur abc-schützenhaft lesen und schreiben. [...]

Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Die Sachverhalte sind nach der Rechtsprechung einheitlich und in sich nicht weiter teilbar. [...]