VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 09.08.2018 - 15a K 12458/17.A - asyl.net: M26527
https://www.asyl.net/rsdb/M26527
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen jungen Sunniten aus dem Irak:

1. In Bagdad herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.

2. Es besteht keine inländische Fluchtalternative in den kurdischen Gebieten wegen der dort herrschenden humanitären und allgemeinen Krise aufgrund des anhaltenden Flüchtlingszustroms.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Bagdad, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefahrendichte, Sunniten, interne Fluchtalternative, subsidiärer Schutz, Nordirak, Kurdistan, Autonome Region Kurdistan,
Normen: AsylG § 4,
Auszüge:

[…]

Dies zugrunde gelegt besteht nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in der Stadt Bagdad.

Den von der Kammer ausgewerteten aktuellen Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass sich die terroristischen Aktivitäten der letzten Jahre fortgesetzt haben. Die Zentralregierung des Irak und verschiedene Milizen kämpfen gegen diese Aktivitäten der Terrororganisation "Islamischer Staat". Darüber hinaus bestehen auch Kämpfe zwischen Milizen unterschiedlicher Ausrichtung. Bagdad war dabei die am meisten betroffene Region im Irak, indem dort mehr als die Hälfte aller Todesfälle verzeichnet wurden. Im Jahr 2013 kam es zu 1,55 Bombenexplosionen täglich in Bagdad, 2014 waren es 1,66 (vgl. Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015, S. 3 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017).

Gegenwärtig kommt es in Bagdad zu fast täglichen Angriffen insbesondere durch unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (vgl. ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation -, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle; Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016; Lage von Sunniten [a-10082], 27. März 2017).

Die beteiligten Akteure sind in der Lage, eine solche Kontrolle über die Stadt und die Provinz Bagdad (und damit einen Teil des Hoheitsgebietes des irakischen Staates) auszuüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017; Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015).

Die in der Herkunftsregion des Klägers von diesen Gruppen durchgeführten Anschläge und gewaltsamen Übergriffe sind damit nicht lediglich Ausprägungen innerer Unruhen und Spannungen, sondern müssen auch wegen ihrer Dauer, Häufigkeit und Intensität als Formen der Gewaltausübung im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verstanden werden.

Aus dieser alltäglichen Gewalt in der Stadt Bagdad folgt zugleich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers, die aus seiner bloßen Anwesenheit als Zivilperson in der Konfliktregion resultiert.

Insbesondere die Häufigkeit und Intensität der Anschläge an öffentlichen, stark frequentierten Orten indizieren den völlig unberechenbaren Charakter der Anschläge und zugleich die konkrete und akute Bedrohung für jedermann jederzeit. Die Anschläge zielen auf öffentliche Einrichtungen, öffentliche Plätze, Moscheen, Kaffeehäuser, Einkaufsstraßen etc. Schiitische Stadtteile sind ebenso betroffen, wie sunnitische und gemischt bewohnte Teile der Stadt. Soweit die Anschläge in schiitische Gegenden stattfinden, werden sie dem IS zugerechnet, in sunnitischen und gemischten Gegenden werden der IS sowie schiitische Milizen hinter den Anschlägen vermutet (vgl. Finnish Immigration Service Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015, S. 3 f. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017).

So kam es beispielsweise am 11. Januar 2016 zu einem Angriff bewaffneter Männer auf ein Einkaufszentrum im mehrheitlich schiitischen Viertel New Bagdad. Zunächst detonierten mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge, dann zündeten Selbstmordattentäter ihre Sprengstoffwesten und Angreifer schossen mit Kleinwaffen um sich. Die bewaffneten Männer stürmten das Einkaufszentrum und nahmen eine unbestimmte Anzahl an Geiseln. Bei diesem Vorfall wurden 17 Zivilisten und drei Polizisten, sowie 20 weitere Personen verletzt.

Am 25. Februar 2016 verübten zwei Selbstmordattentäter einen Anschlag auf eine schiitische Moschee im Schula-Viertel im Nordwesten der Stadt, bei dem acht Zivilisten getötet und 13 weitere verletzt wurden.

Am 28. Februar 2016 fand ein Angriff auf einen Markt in Sadr City statt, bei dem 24 Zivilisten getötet und 62 verletzt wurden.

Am 29. März 2016 zündete eine Person inmitten einer Gruppe von Tagelöhnern am Al-Tajjaran-Platz im Zentrum der Stadt eine Sprengstoffweste. Berichten zufolge seien dabei ein Zivilist getötet und mindestens 18 Weitere Personen verletzt worden. Der IS habe sich online zur Tat bekannt.

Am 22. April 2016 nahm ein Selbstmordattentäter eine schiitische Moschee in Radhwaniya im Südwesten von Bagdad ins Visier, dabei seien drei Personen getötet und mindestens 16 weitere verletzt worden. Ein Weiterer Selbstmordattentäter wurde von Sicherheitskräften erschossen, bevor er seinen Sprengsatz zünden konnte.

Am 25. April 2016 führte ein Anschlag einer Person in einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen in New Bagdad im Osten der Stadt zu drei toten Zivilisten sowie vier toten Polizisten, mindestens 12 Personen wurden verletzt worden.

Am 2. Mai 2016 zündete ein Selbstmordattentäter eine Autobombe zwischen den Vierteln Saidiya und Dora und tötete dabei mindestens zehn Personen (drei Polizisten und sieben Zivilisten) und verletzte mindestens elf Zivilisten.

Am 11. Mai 2016 wurden drei Anschläge in verschiedenen Vierteln der Stadt verübt. In Sadr City tötete ein mit Sprengsätzen beladenes Fahrzeug mindestens 28 Personen und verletzte 74 weitere. Eine Person in einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug griff einen Checkpoint in Khadimiya an und tötete dabei mindestens sechs Personen (vier Zivilisten und zwei Polizisten). Bei einem dritten Angriff tötete ebenfalls ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug im Adil-Viertel im Westen der Stadt neun Personen und verletzte 15 Personen.

Am 17. Mai 2016 wurde ein komplexer Anschlag auf einen Markt im Schaab-Viertel im Nordosten der Stadt verübt, bei dem ein Selbstmordattentäter sowie ein weiterer in der Nähe befindlicher Sprengsatz mindestens 13 Personen tötete und 37 verletzte. Am selben Tag zündete ein weiterer Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug auf dem Dschamila-Markt in Sadr-City, mindestens elf Personen wurden dabei getötet und 30 weitere verletzt. Andere Berichte gaben weitaus höhere Opferzahlen an.

Am 9. Juni 2016 wurden bei einem Selbstmordanschlag mit einer Autobombe in New Bagdad 12 Zivilisten getötet und 49 verletzt.

Am 30. Juni 2016 tötete ein Selbstmordattentäter im Viertel al-Schurta al-Rabia sechs Zivilisten und verwundete 19 weitere.

Am 3. Juli 2016 führte ein Angriff mit einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug im schiitischen Viertel Karrada nach Angaben des Gesundheitsministers zu 292 Toten und 200 Verletzten. Berichten zufolge seien Personen in Gebäuden, darunter in einem Einkaufszentrum, eingeschlossen gewesen, in denen sich im Zuge der Explosion ein Feuer ausgebreitet habe.

Am 5. September 2016 führte ein weiterer Anschlag in Karrada zu 13 Toten und 18 Verletzten.

Am 9. September 2016 zündete ein Attentäter mit Sprengstoffweste und ein weiterer Attentäter in einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug in kurzer Zeit hintereinander ihre Sprengsätze nahe des Einkaufszentrums Al-Nachil in der Palästina-Straße im Osten von Bagdad und tötete dabei mindestens fünf Personen und verletzte mindestens 23 weitere. Am 27. September 2016 tötete ein Attentäter mit Sprengstoffweste im Bayaa-Viertel im Westen von Bagdad neun Zivilisten und verletzte 26 weitere.

Am 13. Oktober 2016 verübte ein Attentäter einen Anschlag auf eine Trauerfeier in Bagdad, bei dem mindestens elf Menschen getötet und 15 weitere verletzt wurden.

In den letzten Wochen des Jahres 2016 und Anfang 2017 kam zu mehreren tödlichen Anschlägen, die überwiegend die östlichen, von Schiiten dominierten Stadtteile Bagdads ins Visier nahmen: Am 31. Dezember 2016 sprengten sich zwei IS-Selbstmordattentäter auf einem zentral gelegenen Markt in Bagdad in die Luft, wobei laut Angaben der Polizei mindestens 25 Personen getötet und 50 verletzt wurden.

Am 2. Januar 2017 explodierte eine Autobombe an einem belebten Platz in Sadr City und tötete laut Angaben des Innenministeriums 39 Personen und verletzte mindestens 61 Personen. Laut Medienberichten habe der Attentäter Arbeiter zu seinem Auto gelockt, indem er ihnen Arbeit versprochen habe, dann habe er sich in die Luft gesprengt. Neun der Opfer seien Angaben von Reuters zufolge Frauen gewesen, die in einem Minibus den Platz überquert hätten. Eine kurze Zeit explodierte eine weitere Bombe vor dem Krankenhaus al-Kindi, wobei drei weitere Personen getötet worden seien.

Am 5. Januar 2017 explodierte eine Autobombe im Stadtviertel al-Obeidi, wobei laut Angaben des Innenministeriums fünf Personen getötet und sieben verletzt wurden. Der IS habe daraufhin in einer Stellungnahme angegeben, dass der Anschlag auf eine Ansammlung von Schiiten abgezielt habe. Eine zweite Explosion am selben Tag ereignete sich im Bab al-Moadham Viertel an einem Checkpoint, wobei acht Personen getötet wurden. Beide Bomben waren in geparkten Fahrzeugen platziert.

Der IS bekannte sich des Weiteren zu zwei Anschlägen am 8. Januar 2017 auf belebte Märkte im Osten der Stadt. Laut Medienberichten lenkte ein Attentäter ein Fahrzeug mit Sprengstoff auf einen Markt in al-Dschamila und detonierte es dort, wobei 13 Personen getötet wurden. Wenige Stunden später sprengte sich ein weiterer Selbstmordattentäter auf einem Markt im Viertel al-Baladiyat in die Luft und tötete dabei sieben Personen (vgl. zum Ganzen: ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle; Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016; Lage von Sunniten [a-10082], 27. März 2017; Hannoversche Allgemeine, Mindestens 63 Tote bei Anschlägen im Irak, 17. Mai 2016, www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Explosionen-in-Bagdad-Mindestens-63-Tote-bei-Anschlaegen-im-Irak; Hannoversche Allgemeine, Mindestens 75 Tote und 130 Verletzte bei Anschlag in Bagdad, 3. Juli 2016, www.haz.de/Nachrichten/Panorama/Uebersicht/Mindestens-75-Menschen-sterben-bei-Anschlag-in-Bagdad; Hannoversche Allgemeine, Mindestens elf Tote bei Selbstmordanschlag, 15. Oktober 2016,    http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Mindestens-elf-Tote-bei-Selbstmordanschlag; Hannoversche Allgemeine, Doppelanschlag in Bagdad - viele Tote, 31. Dezember 2016 ; www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Doppelanschlag-in-Bagdad-viele-Tote; Hannoversche Allgemeine, Bagdad: Selbstmordattentäter tötet viele Menschen, www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Bagdad-Selbstmordattentaeter-toetet-viele-Menschen).

In jüngster Zeit kam es am 15. Januar 2018 zu einem Anschlag durch zwei Selbstmordattentäter auf dem Al-Tajjaran-Platz in der Innenstadt von Bagdad. Dieser Platz gilt als Treffpunkt für Tagelöhner, die auf Arbeit warten und ist deshalb gerade morgens voller Menschen. Mindestens 38 Menschen wurden getötet, 105 weitere verletzt. Der Al-Tajjaran-Platz war in der Vergangenheit wiederholt Ziel von Anschlägen (vgl. Die Zeit-Online, Viele Tote bei Anschlägen in Bagdad, 15. Januar 2018, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-01/irak-bagdad-doppelanschlag-selbstmordattentat-tajran-platz).

Auch aktuell wird fortlaufend über tägliche Angriffe auf Zivilisten in Bagdad berichtet (vgl. musingsoniraq.blogspot.com/2018/06/security-iniraq jun-1-7-2018.html).

Insgesamt ist die Provinz Bagdad die am meisten vom Konflikt betroffene Provinz mit den höchsten Opferzahlen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017. Dies ergibt sich für den Zeitraum November 2015 bis September 2016 zudem aus: ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle; Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016; Lage von Sunniten [a-10082], 27. März 2017; für das Jahr 2017 aus dem Bericht der UNO-Unterstützungsmission im Irak (UN Assistance Mission in Iraq, UNAMI) zu zivilen Todesopfern in den Monaten Januar 2017 bis Februar 2018, vgl. www.uniraq.org/Index.php &lang=en).

Aus der dargelegten besonderen Gefahrensituation folgt zur Überzeugung der Kammer auch die individuelle Betroffenheit des Klägers. Die hierfür - nach der Rechtsprechung - (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Februar 2014 -10 C 6.13 - und vom 17. November 2011 -10 C 13.10-, jeweils juris) erforderliche Gefahrendichte, die anhand einer annäherungsweisen quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos zu ermitteln ist, folgt vorliegend aus der soeben dargelegten Häufigkeit und Qualität der Anschläge an Orten des öffentlichen Lebens, die in allen Teilen der Stadt verübt werden und regelmäßig erhebliche Zahlen Toter und schwer verletzter Menschen zur Folge haben.

Die Kammer stellt bei dieser Beurteilung nicht entscheidend auf die Größenordnung der Anschläge und der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl ab (vgl. so aber beispielsweise: Bayer. VGH, Beschluss vom 21. Dezember 2017 - 5 ZB 17.31893 -; VG Saarland, Urteil vom 9. Februar 2018 - 6 K 2662/16 -; VG Münster, Urteil vom 17. Januar 2018 - 6a K 2323/16.A -; jeweils juris).

Denn zum einen kann derzeit nicht auf verlässliche Zahlen zurückgegriffen werden (vgl. so bezüglich der Einwohnerzahl ausdrücklich das Auswärtige Amt, vgl. www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976).

Die Einwohnerzahl Bagdads sowie auch des Iraks ergibt sich derzeit aus Schätzungen, die auf der letzten Volkzählung im Jahr 1987 (damals ermittelt: 16,3 Millionen für den gesamten Irak) basieren (vgl.    https:Ilde.wikipedia.org/wiki/Irak; https:l/www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/ laender/rak-noderirak/203976 (die Volkszählung im Jahr 1997 bezog sich nicht auf die Region Kurdistan Irak, vgl. news.bbc.co.uk/21hi/8204550.stm) und variiert zwischen 7,6 (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/ laender/irak-node/irak1203976) und 5,4 Millionen bzw. 6,2 Millionen (für die Agglomeration Bagdad de.wikipedia.org/wiki/Irak) bzw. 28 Millionen (https://www.zdf.de/kinder/logo/der-irak-100.html), 29,6 Millionen (https://de. wikipedia.org/wiki/lrak), 36 Millionen (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976) und 38 Millionen (https://de. wikipedia.org/wiki/lrak) (für den gesamten Irak).

Es ist nicht erkennbar, ob die seitdem durch Krieg, Bürgerkrieg und IS-Terror stattfindenden erheblichen Fluchtbewegungen dabei hinreichend berücksichtigt werden konnten.

Bezüglich der Zahlen zu den zivilen Opfern stellt sich die Lage noch undurchsichtiger dar. Die irakische Regierung veröffentlicht selbst keine Zahlen mehr. Die drei wesentlichen Quellen, die Statistiken zu Opferzahlen veröffentlichen (UN Mission zur Unterstützung des Irak (UNAMI), Iraqi Body Count und Joel Wing), stellen das tatsächliche Ausmaß der Opferzahlen nicht dar, sondern jeweils lediglich einzelne Vorfälle, die sie dokumentieren konnten. Die UNAMI, weist bei der Veröffentlichung der zivilen Opferzahlen darauf hin, dass kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Das Ausmaß, die Qualität oder die Erheblichkeit bewaffneter Gewalt und terroristischer Aktivitäten im Hinblick auf die Lage der Zivilbevölkerung könnten nicht sicher abgebildet werden. Es wird auch von Behinderungen internationaler Hilfsorganisationen bei der Dokumentation der Opfer berichtet (vgl. dazu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017, S. 86 ff.; Note on Methodology, www.uniraq.org/index.php.

Auch das Auswärtige Amt weist in seinem aktuellen Bericht ausdrücklich darauf hin, dass der Bericht mangels empirischer Grundlage allgemein und kursorisch bleiben muss. Statistisches Material werde nur eingeschränkt verwendet, da Angaben aus Medienberichten oder Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisatoren in vielen Bereichen - aufgrund der äußerst prekären Sicherheitslage im Irak - nicht überprüft werden könnten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Februar 2018).

Bezüglich der Zahlen ziviler Opfer durch die von den USA geführte Koalition im Irak wird berichtet, dass die Koalition nicht hinreichend ermittelt, um die Zahl ziviler Opfer im Kampf gegen den IS festzustellen (vgl. Bericht von Human Rights Watch vom 19. Dezember 2017, www.hrw.org/news/2017/12/19/us-led-coalition-iraqs-lame-boast-civilian-death-inquiries).

Zum anderen ist nach Auffassung der Kammer aufgrund der besonderen Anschlagssituation in der Stadt Bagdad die Ermittlung der konkreten Gefahrendichte unter Einschluss einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos anhand der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl nicht geeignet, die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers in zutreffender Weise darzustellen. Insbesondere die Tatsache, dass Zivilpersonen die Anschlagsorte nicht meiden können, sondern diese für das tägliche Überleben aufzusuchen gezwungen sind (Marktplätze, Straßenkreuzungen, Einkaufszentren, Tagelöhnertreffpunkte), begründet die individuelle Gefahr für Zivilpersonen, Opfer der Anschläge zu werden. Diese besondere Gefahrensituation aufgrund der durch die Anschläge geprägten Kampfhandlungen kann im Rahmen einer reiner Berechnung von Wahrscheinlichkeiten nicht hinreichend erfasst werden. [...]