VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 03.08.2018 - 5 K 1377/16 - asyl.net: M26524
https://www.asyl.net/rsdb/M26524
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Angehörigen der Hazara wegen Bedrohung durch Angehörige der Kutschi:

1. Dem aufgrund eines Konflikts um Weideland zwischen den Volksgruppen der Hazara und Kutschi bedrohten Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Wegen der exponierten Stellung seines Vaters als Dorfvorsteher wurde der Betroffene bereits verfolgt (hier wird von Verfolgung aus politischen Gründen ausgegangen).

2. Keine Schutzgewährung durch den afghanischen Staat, insbesondere aufgrund der einflussreichen Stellung des Repräsentanten der afghanischen Kutschi, eines Bruders des amtierenden Präsidenten Afghanistans.

3. Keine inländische Fluchtalternative, da landesweit von Bedrohung ausgegangen werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Kutschi, Kuchi, Flüchtlingsanerkennung, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]
Die Klage ist zulässig und bereits im Hauptantrag begründet. Soweit mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten die vom Kläger begehrte Flüchtlingsanerkennung abgelehnt wird, ist dies rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach der gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hat er vielmehr nach § 3 Abs. 1 AsylG - aufgrund der im vorliegenden Einzelfall individuell erlittenen Vorverfolgung - Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). […]

II. In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Kläger ein individuelles Schicksal, das seine Vorverfolgung belegt, hinreichend glaubhaft gemacht. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit davon überzeugt, dass sein Vortrag jedenfalls im Kern der Wahrheit entspricht und er in seinem Heimatland bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat und mit dem Tod bedroht wurde sowie im Falle seiner Rückkehr hiervon erneut bedroht wäre. Im vorliegenden Einzelfall ist daher davon auszugehen, dass der Kläger nicht unverfolgt ausgereist ist, sondern in nahem zeitlichem Zusammenhang mit seiner Ausreise aus Afghanistan politische Verfolgung im Sinne der §§ 3 und 3a AsylG erlitten hat.

Der Kläger hat durchgängig und widerspruchsfrei vorgetragen, dass seine Familie und insbesondere auch seine Person in Afghanistan vor dem Hintergrund eines Konflikts um Weiderechte zwischen den Hazara, denen er angehört, und den Kutschi sowie der früheren exponierten Stellung seines Vaters als Dorfvorsteher in den Fokus des Anführers der Kutschi, Hasmat Ghani, geraten ist und in der Folge im Jahr 2008 das Haus seiner Familie zerstört und er von seiner Familie getrennt worden ist, sowie er, nachdem 2014 der Bruder des Hasmat Ghani, Ashraf Ghani, Präsident Afghanistans geworden ist, im Jahr 2015 mit dem Tode bedroht wurde und erheblichen polizeilichen Übergriffen ausgesetzt war. Dabei kann dahinstehen, ob dem Kläger auch das bei seiner Bundesamtsanhörung berichtete Geschehen hinsichtlich der Kontaktaufnahme mit seinem Bruder in Deutschland ohne weiteres abgenommen werden kann. Das Gericht glaubt dem Kläger aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung und trotz gewisser verbleibender Unklarheiten im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung jedenfalls, dass er in seinem Heimatland vor seiner Ausreise Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt und weiterhin verfolgungsgefährdet war sowie im Falle seiner Rückkehr erneut verfolgungsgefährdet wäre. Sein Vortrag stellt sich als ganz überwiegend plausibel und in zentralen Bereichen des von ihm geschilderten Verfolgungsgeschehens als detailreich dar. Die von der Beklagten im angefochtenen Bundesamtsbescheid erhobenen Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit seines Vortrags vermögen dagegen jedenfalls vor dem Hintergrund der mündlichen Verhandlung nicht zu überzeugen. Das vom Kläger berichtete Verfolgungsschicksal knüpft nämlich nicht nur nahtlos an das von seinem Bruder ... bereits im Jahr 2008 berichtete Geschehen an, von dessen Wahrheit die Beklagte in ihrem diesen betreffenden Bundesamtsbescheid vom ... 2009 - ... - ohne weiteres ausgegangen ist. Vor allem vermochte der Kläger in der mündlichen Verhandlung eine Vielzahl von kritischen Fragen und Vorhalten gerade auch der Beklagtenseite im Wesentlichen überzeugend, nachvollziehbar und konsistent zu beantworten, so dass Zweifel zwar nicht völlig, aber doch weitgehend und mit einem hinreichenden Grad an Gewissheit ausgeschlossen werden können. […]

Des Weiteren reichen die Wurzeln des Konflikts zwischen der schiitischen Minderheit der Hazara, die etwa 30 % der Bevölkerung der ca. 550.000 Einwohner der Provinz Wardak ausmachen, und den Kutschi, einem traditionellen und zumeist sehr armen Nomadenvolk, in Zentralafghanistan bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seit 2007 hat sich der Konflikt um das Weideland in den Provinzen Wardak und Ghazni zunehmend verschärft und mündete dieser immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Kutschi und Hazara. Trotz der Mediationsbemühungen seitens der afghanischen Regierung und der Vereinten Nationen ist er bisher sowohl rechtlich als auch politisch ungelöst. Zugleich wird den Kutschi in Länderei-Fragen ein "guter Draht" zur Regierung in Kabul zugeschrieben. Dabei wird namentlich auf Hashmat Ghani als Repräsentanten aller afghanischen Kutschi und Bruder des gegenwärtigen afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani hingewiesen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, S. 283 f., m.w.N.; zur allgemeinen Lage der Hazara in Afghanistan siehe dort auch S. 278 ff., m.w.N.). Weiter wird berichtet, dass sich gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hazara und Kutschi in den Jahren 2004 und 2012 zugetragen haben und sich der Konflikt in der Provinz Wardak seit dem Jahr 2007 insbesondere in den beiden Distrikten Behsud I und II intensiviert hat: […]

Vor diesem Hintergrund stellt es sich als nachvollziehbar und glaubhaft dar, dass der Kläger und seine Familie im Jahr 2008 Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hazara und Kutschi geworden sind, ihr Haus zerstört wurde und sie aus ihrem Dorf vertrieben wurden. Ebenso lässt es die dokumentierte einflussreiche Stellung von Hashmat Ghani als Repräsentant der afghanischen Kutschi und Bruder des amtierenden afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani hinreichend plausibel erscheinen, dass dieser im Jahr 2015 gegen den Kläger aufgrund der früheren exponierten Funktion seines Vaters Drohungen und Verfolgungsmaßnahmen veranlassen konnte. […]

Der afghanische Staat ist demgegenüber hier nicht zur entsprechenden Schutzgewährung in der Lage. […]

In Anbetracht dessen konnte der Kläger weder im Zeitpunkt seiner Ausreise effektiven Schutz hinreichend zuverlässig erlangen, noch wäre ihm dies im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung möglich (vgl. dazu allgemein Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3c Rn. 6). Vielmehr besteht für ihn, wie ausgeführt, eine beachtlich wahrscheinliche konkrete Gefahr in Gestalt unmenschlicher Maßnahmen. Auch zählt seine Heimatprovinz Wardak seit einiger Zeit zu den volatilen Provinzen Afghanistans; regierungsfeindliche bewaffnete Aufständische, u.a. die Taliban, sind in unterschiedlichen Distrikten aktiv. Die Provinz grenzt unmittelbar an Kabul und erfährt dadurch eine große strategische Bedeutung als Zugang zur Hauptstadt, was auch das große Interesse der Taliban und die daraus resultierenden starken Kampfhandlungen in der Provinz begründet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, a.a.O., S. 206 und S. 208, m.w.N.; vgl. auch Urteil der Kammer vom 20.08.2014 - 5 K 60/14 -, m.w.N.).

Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer bietet - in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls - ggf. auch die Hauptstadt Kabul keinen dauerhaften internen Schutz im Verständnis von § 3e AsylG bzw. Art. 8 ARL (vgl. nur Urteile vom 12.07.2018 - 5 K 1339/16 -, 30.05.2018 - 5 K 1199/16 und 1262/16 - sowie vom 29.01.2018 - 5 K 1398/16 und 5 K 1360/16 -; vgl. auch Urteile der Kammer vom 11.05.2016 - 5 K 61/15 -, 06.05.2015 - 5 K 2100/14 -, 03.09.2014 - 5 K 391/14 - und 20.08.2014 - 5 K 60/14). Dies gilt zur Überzeugung des Gerichts fallbezogen auch für den Kläger. Aufgrund des Umstandes, dass der Kläger eine Verfolgungsgefährdung seitens des Bruders des afghanischen Präsidenten glaubhaft dargetan hat, ist davon auszugehen, dass dieser wegen der von ihm geschilderten Probleme früher oder später in Kabul entdeckt und bedroht wird. Dies ist hier auch für die anderen größeren Städte wie Herat oder Mazar-e Sharif sowie die afghanischen Provinzen anzunehmen. Dabei kommt es im Übrigen auf die Frage, ob dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hätte, nicht mehr an; denn im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung kann - anders als im Rahmen des Asylrechts nach Art. 16a GG - eine Vorverfolgung nicht allein wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden, sofern diese nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung unverändert fortbesteht ( vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, juris, Rn. 29, m.w.N.; OVG des Saarlandes, Urteil vom 18.01.2018 - 2 A 287/17 -, juris; vgl. auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3e Rn. 1). [...]