Verfolgung in Syrien wegen Wehrdienstentziehung unabhängig von der Herkunft aus einem Rebellengebiet
1. Der Senat bestätigt seine Rechtsprechung, wonach rückkehrenden Wehrdienstentziehern, die aus einer (vermeintlich) regierungsfeindlichen Zone stammen, durch den syrischen Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird, an die er Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen wird.
2. In Fortführung seiner Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass unabhängig von der Herkunft aus einem Rebellengebiet einem nach Syrien zurückkehrenden Wehrpflichtigen, der sich dem Wehrdienst entzogen hat, desertiert ist oder den Wehrdienst nicht angetreten hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (real risk) Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts wegen ihm unterstellter oppositioneller Gesinnung droht.
(Amtliche Leitsätze)
[…]
III. Der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt zunächst daraus, dass er aus einer sogenannten regierungsfeindlichen Zone stammt und daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bei Rückkehr mit einer an eine ihm unterstellte oppositionelle Gesinnung anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu rechnen hat. […]
IV. Der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG folgt auch unabhängig von seiner Herkunft aus einer oppositionellen Zone daraus, dass er sich dem Wehrdienst entzogen hat und daher bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen wegen ihm unterstellter oppositioneller Gesinnung zu befürchten hat. […]
2. Auf der Grundlage dieser Erkenntnismittel lässt sich in Übereinstimmung mit den Urteilen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14.02.2017 - 21 B 16.31001 -, des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - und vom 14.06.2017 - A 11 S 511/17 -, des Urteils des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 07.02.2018 - 5 A 1245/17.A -, des Urteils des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 15.06.2018 - 3 KO 162/18 - (Medieninformation 7/2018 des Thüringer Oberverwaltungsgerichts) und unter Fortführung der Senatsentscheidung vom 06.06.2017 - 3 A 3040/16.A - feststellen, dass die syrischen Männern im Falle einer Wehrdienstentziehung oder Desertion drohenden staatlichen Maßnahmen nach ihrer objektiven Gerichtetheit an den in § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Verfolgungsgrund der - ihnen vom syrischen Staat gemäß § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebenen - politischen Überzeugung anknüpfen. […]
4. Die von den vorstehenden Ausführungen abweichenden Beurteilungen zur Verfolgungsgefahr für Wehrdienstentzieher durch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Urt. vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A -, juris), das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Urt. vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris), das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Urt. vom 27.06.2017 - 2 LB 91/17 -, juris; siehe auch Beschl. vom 14.03.2018 - 2 LB 1749/17 -, juris), das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (Urt. vom 11.01.2018 - 1 Bf 81/17.A -, juris), das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (Urt. vom 04.05.2018 - 2 LB 7/18 ), das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (Urt. vom 06.06.2017 - 2 A 283/17 -, juris; Urt. vom 17.10.2017 - 2 A 365/17 -, juris) und das OVG Berlin-Brandenburg (Urt. vom 21.03.2018 - 3 B 28.17) überzeugen nicht. Soweit diese Entscheidungen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr verneinen, wird zur Überzeugung des Senats entweder die zu Fragen der Wehrdienstentziehung bestehende Auskunftslage nicht hinreichend gewürdigt oder es werden aus den hierzu vorliegenden Erkenntnisquellen nicht valide Schlussfolgerungen gezogen. Die getroffenen Einschätzungen bleiben oft im Allgemeinen und setzen sich weder hinreichend mit der zu dieser Problematik ergangenen und gefestigten Rechtsprechung des BVerfG und BVerwG, noch mit den Praktiken des syrischen Regimes noch mit den vorliegenden Erkenntnismitteln auseinander.
Im Einzelnen wird geltend gemacht, die Strafverfolgung für Wehrdienstentziehung sei unter Zugrundelegung des (formalen) Strafrahmens als solche eine von ihrer Höhe nicht zu beanstandende ordnungsrechtliche Sanktion; sowohl das „alte deutsche Strafrecht“ als auch das deutsche Wehrstrafrecht sähen Sanktionen für Wehrdienstentziehung, Selbstverstümmelung, Fahnenflucht etc. vor (so OVG Nordrhein-Westf., Urt. vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A -, juris Rn. 61) und Anhaltspunkte für beachtlich wahrscheinliche darüber hinausgehende Drangsalierungen bis hin zur Folter lägen nicht vor (Niedersächs. OVG, Beschl. vom 14.03.2018 - 2 LB 1749/17 -, juris Rn. 81); jedenfalls fehle es an der Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund der vermuteten politischen Opposition zum syrischen Regime (Niedersächs. OVG, a. a. O. , Rn. 83 f.; Hbg. OVG, a. a. O., Rn. 142 ff.); weder lägen Umstände vor, die die Auferlegung der Wehrpflicht selbst als politische Verfolgung erscheinen lasse, noch sei erkennbar, dass der syrische Staat in Reaktion auf Wehrdienstentziehungen an flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgründe anknüpfe. Die einem Wehrdienstentzieher bei hypothetischer Rückkehr bevorstehende Heranziehung zum Wehrdienst als solche sei keine Verfolgungshandlung, sondern Ausfluss einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht, die grundsätzlich auch totalitäre Staaten von ihren Staatsbürgern einfordern könnten (ebenso OVG NW, Urt. vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16 -, Rn. 49, OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 140). Angesichts eines „kulturübergreifend verbreiteten Phänomens der Furcht vor einem Kriegseinsatz als Motivation zur Wehrdienstentziehung in Kriegszeiten“ (OVG Nordrhein-Westf., a. a. O.) liege es auf der Hand, dass Flucht und Asylbegehren der Wehrpflichtigen nichts mit politischer Opposition zu tun hätten. Es hieße, dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit zu unterstellen, wenn angenommen werde, es könne dies nicht erkennen und schreibe deshalb jedem Wehrdienstentzieher eine gegnerische politische Gesinnung zu. Auch der Umstand, dass Zwangsrekrutierungen erfolgten, sei in einer kriegerischen Auseinandersetzung, in der der Staat auf eine Vielzahl von Soldaten angewiesen sei, als solche keine Verfolgungshandlung, vielmehr in der Staatenpraxis üblich. Dass die Ausbildungszeit oft nur kurz sei und die Betreffenden häufig unverzüglich an die Front geschickt würden, sei durch militärische Notwendigkeiten bedingt, da die Streitkräfte des syrischen Regimes in weiten Teilen des Landes im Kampfeinsatz seien und könne daher nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung gleichgestellt werden.
Zwar bestehe die Absicht des syrischen Regimes, Wehrdienstentziehung im Interesse der Aufrechterhaltung der militärischen Streitmacht umgehend und deutlich zu bekämpfen (vgl. OVG NW, Urt. vom 4.5.2017 - 14 A 2023/16 -, juris Rn. 58). Die Erkenntnisquellen deuteten im Hinblick auf die Umsetzung dieser Absicht aber auf ein willkürlich-wahlloses und damit ohne Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund erfolgendes Verhalten der Sicherheitskräfte/der syrischen Armee hin. So werde berichtet, dass die Bestrafung häufig von der Position und dem Rang des Betreffenden, aber auch dem Bedarf an der Front abhingen.
Mit in die Überlegungen sei schließlich einzubeziehen, dass das syrische Regime den bestehenden Konflikt für sich entscheiden wolle und daher einen erheblichen Bedarf an einsatzbereiten Soldaten habe. Der syrische Staat sei dringend darauf angewiesen, seine diesbezüglichen Lücken zu schließen. Entsprechend versuche die Regierung, mit Amnestien und Erhöhung des Soldes Anreize für den Eintritt in den Militärdienst zu schaffen und rekrutiere auch jenseits der offiziellen Altersgrenzen. Unter den ins Ausland Geflohenen befinde sich bekanntermaßen eine große Anzahl Wehrpflichtiger. Würde das syrische Regime dem Grunde nach diejenigen, die es vorgezogen haben, sich nicht an Kampfeinsätzen zu beteiligen, einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter aussetzen, würde es sein eigenes Potential nicht unerheblich schmälern (vgl. OVG Saarland, Urt. vom 6.6.2017 - 2 A 283/17 -, vom 18.5.2017 - 2 A 176/17 -, a. a. O., OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. vom 16.12.2016, a. a. O., Rn. 156). Dies stünde allerdings im Widerspruch zu seinem vorrangigen, bislang mit großer Härte verfolgten Ziel, das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium wieder zu errichten. Bei der Einberufung, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen könne, werde keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht. Dies zeige sich daran, dass bei Kapitulationsverhandlungen über Gebiete, die von der Opposition besetzt waren, verlangt werde, dass die jungen Männer der Region in die syrische Armee einträte (vgl. Hbg. OVG, a. a. O., juris Rn. 128).
Dem folgt der Senat aus den oben genannten Gründen und der dort erfolgten Prognose nach Auswertung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel nicht.
Ein Vergleich mit in Deutschland bestehenden Sanktionsnormen bei Desertion oder Wehrdienstentziehung verbietet sich bereits deshalb - wie der VGH Baden-Württemberg in seiner Entscheidung vom 14.06.2017 zutreffend ausgeführt hat (A 11 S 511/17, juris) -, weil er Verpflichtungen eines Soldaten der Bundeswehr mit angeblichen Verpflichtungen eines Soldaten der syrischen Armee, die einem totalitären Herrscher dient und für eine Vielzahl von Kriegsverbrechen verantwortlich ist, gleichsetzt. Eine solche Gleichsetzung ist inakzeptabel und lässt angesichts der Ausblendung der fraglosen Grenzen zulässigen soldatischen Handelns ein erhebliches Maß an Geschichtsvergessenheit erkennen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 14.06.2017 - A 11 S 511/17 - juris Rn. 74). Soweit in diesem Zusammenhang auf „altes deutsches Strafrecht“ abgestellt wird, vermag der Senat nicht zu erkennen, dass Wortlaut und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften aus der Zeit von 1933 bis 1945 - so diese Zeit mit dem „alten deutschen Strafrecht gemeint sein sollte - ein anderes Ergebnis gebieten sollten. Auch zu dieser Zeit wurden Wehrdienstverweigerer und Deserteure von den Machthabern als Vaterlandsverräter und Nestbeschmutzer und damit als feindlich Gesinnte hingerichtet. Soweit auf den Wortlaut des syrischen Wehrstrafgesetzes abgestellt wird, bleibt festzuhalten, dass es weniger auf den Wortlaut dieser Vorschriften, sondern auf deren Umsetzung bzw. das tatsächliche Verhalten der syrischen Sicherheitskräfte in Bezug auf Wehrdienstentzieher ankommt. Hierbei ist die Motivation der Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, nicht entscheidend. Vielmehr ist entscheidend, wie dieser Personenkreis von Seiten des syrischen Apparates angesehen wird. Die Wehrpflichtigen mögen aus Angst vor Kriegseinsätzen, drohendem Tod, Verletzung etc. geflohen sein, hierdurch haben sie sich, wie oben ausgeführt, aus Sicht der syrischen Machthaber auf die falsche Seite, nämlich auf diejenige gestellt, die nicht an der Seite Assads zu kämpfen gedenkt und sich damit zu Vaterlandsverrätern und Feinden des Regimes gemacht. Dies ist ausreichend für die Annahme einer politischen Verfolgung im oben beschriebenen Sinne. Die oben näher dargestellten Auskünfte gehen ganz überwiegend davon aus, dass der syrische Staat Wehrdienstentziehern eine gegen ihn gerichtete Gesinnung unterstellt, die mit entsprechenden Zwangsmaßnahmen, die von Folter, Einsatz unmittelbar an der Front ohne vorherige Ausbildung, Exekution etc. einhergehen kann. Soweit die zitierten anderslautenden Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte darauf abstellen, es heiße, dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit oder Unvernunft zu unterstellen, wenn angenommen werde, es könne den Grund der Wehrdienstentziehung nicht erkennen, es sei allenfalls von einem willkürlichen, wahllosen und damit ohne Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund erfolgenden Verhalten der Sicherheitskräfte auszugehen, folgt dem der Senat nicht. Vernunftorientierte Verhaltensweisen, Realitätsferne oder Realitätsnähe sind Kriterien, die bei einem diktatorischen und menschenverachtenden System wie demjenigen der syrischen Machthaber, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft und dabei grobschlächtig zwischen Freund und Feind unterscheidet (vgl. zutreffend VGH Baden- Württemberg, Urt. vom 14.06.2017 - A 11 S 511/17 Rn. 68, 69), keine valide Sachverhaltsaus- und -bewertung ermöglichen. Das Regime von Baschar al Assad kämpft seit langem mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln um seinen Machterhalt und schreckt dabei weder von der Bombardierung der eigenen Zivilbevölkerung noch vor Mord und Folter zurück. Derartige Verhaltensweisen mit vernunftbasierten Erwägungen erfassen zu wollen und nach uns vertrauten Kriterien „vernünftigen Verhaltens“ bewerten zu wollen, verbietet sich. Maßgeblich haben hierbei die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel zu sein, die ganz überwiegend eine besondere Rückkehrgefährdung von wehrpflichtigen Männern bejahen. Die Maßnahmen des Regimes von Baschar al Assad sind auch nicht in dem Sinne willkürlich, dass unter Anlegung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
(real risk) nicht prognostizierend eingeschätzt werden könnte, dass rückkehrende Wehrdienstentzieher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu gegenwärtigen haben. Den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass das Regime von Baschar al Assad wahllos beliebige Personen inhaftiert, foltert oder wahllos Städte oder Stadtteile bombardiert. Weder sind wahllos beliebige Bevölkerungsgruppen von Bombardements betroffen noch sind wahllos Personen von Exekutionen und Inhaftierung bedroht, sondern vielmehr diejenigen, die aus Sicht des Regimes und seines „Freund-Feind-Schemas“ auf der falschen, nämlich der feindlichen Seite stehen. Dass diese Einschätzung des Regimes von Baschar al Assad grobschlächtig, ungerecht und maßlos ist, ändert nichts daran, dass er bestimmte Gruppen zu seinen Feinden erklärt hat, die mit allen ihm zur Verfügung stehenden Gewaltmaßnahmen extralegaler Art zu rechnen haben.
Die syrischen Sicherheitsbehörden operieren weit außerhalb rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Grundsätze und legen eine menschenverachtende Verfolgungspraxis an den Tag. Mehreren Berichten von amnesty international lässt sich seit Beginn des Bürgerkriegs eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnehmen (vgl. ai, „Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria“, August 2011, S. 9 ff. und nunmehr auch ai, „It breaks the human“, torture, disease and death in Syria’s prisons, 2016, S. 12 ff. und passim bzw. ai „Human Slaughterhouse“ Februar 2017). Dabei handelt es sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes seit Jahrzehnten systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 05.01.2017, S. 19 f.). Übereinstimmend wird in den Erkenntnismitteln davon berichtet, dass Folter, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen und Verschwindenlassen stets zu den gängigen Praktiken der syrischen Sicherheitsorgane gehören. Den anderslautenden Entscheidungen der oben genannten Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe ist daher nicht zu folgen. [...]