VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 13.06.2018 - A 6 K 4635/17 - asyl.net: M26501
https://www.asyl.net/rsdb/M26501
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politisch aktiven Kurden aus der Türkei:

1. Die Türkei entwickelt sich immer mehr in Richtung Diktatur.

2. Auf Grund des in Deutschland allgegenwärtigen türkischen Geheimdiensts und der Tatsache, dass die in Deutschland lebende türkisch-stämmige Bevölkerung dazu aufgerufen ist, ihre Landsleute zu bespitzeln, begründen auch exilpolitische Tätigkeiten erhebliche Verfolgungsgefahren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Folter, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Krieg, Vorverfolgung, Flüchtlingseigenschaft, politische Verfolgung, Operation Olivenzweig,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Davon abgesehen, liegen aufgrund des gescheiterten Putschversuchs im Juli 2016 sowie der nachfolgenden Säuberungsmaßnahmen und massenhaften Inhaftierungen von (vermeintlichen) Regimegegnern im Falle des Klägers auch Nachfluchtgründe vor, die nach gegenwärtiger Erkenntnislage bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründen. Seit seiner Ausreise haben sich die Verhältnisse in der Türkei wesentlich verändert.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat noch in einem Urteil aus dem Jahre 2013 angeführt, dass die Verhältnisse in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet gewesen seien, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betroffen habe, wozu auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit gehörten. Zudem habe sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen gegolten habe, sei mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet worden (VGH Bad.-Württ. Urt. v. 27.08.2013 - A 12 S 561/13 -, juris, Rdnr. 70172).

Diese im Jahr 2013 noch zutreffende Prognose kann nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht mehr aufrechterhalten werden, vielmehr ist zu befürchten, dass sich die Türkei immer mehr in Richtung Diktatur entwickelt. Davon, dass der Reformprozess vorangetrieben wird, kann keine Rede mehr sein. Von "Säuberungsmaßnahmen" wird berichtet, der landesweite Ausnahmezustand wurde laufend verlängert und dauert gegenwärtig immer noch an (SPIEGEL ONLINE vom 18.04.2018: "Türkei verlängert Ausnahmezustand zum siebten Mal"), die Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, zahlreiche kurdische Abgeordnete sind inhaftiert.

In dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Januar 2017) vom 19.02.2017 heißt es, nach dem Putschversuch habe die Regierung sog. "Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, welche sie der Gülen-Bewegung zurechne oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen werde. Im Zuge dieser Maßnahmen seien bislang gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen in Polizeigewahrsam genommen worden, davon befänden sich 41.034 in Untersuchungshaft (7.597 Polizei, 6.748 Militär, 2.433 Richter und Staatsanwälte) (Stand: 4.1.2017). 76.000 Beamte seien vom Dienst suspendiert worden, auch sei es zur Beendigung des Beamtenverhältnisses bei Militärangehörigen (7.536) gekommen. Die Maßnahmen zielten erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen "Säuberungen" werde nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werde und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt würden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen habe die Regierung am 20.07.2016 den Notstand verhängt, zunächst für drei Monate. Am 19.10.2016 und am 03.01.2017 sei dieser Notstand für jeweils weitere drei Monate verlängert worden. Er gelte nun mindestens bis 19.04.2017. (Er gilt bis heute fort.) Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze. Die Atmosphäre speise sich aus den "Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der allabendlich mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert werde. Thematisch fahre Erdogan zur Erreichung seines Ziels seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK sei. Viele der zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertige die Regierung mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch würden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt. Neben der Einstufung der Gülen-Bewegung als Terrororganisation sei u.a. 57 von 59 Abgeordneten der prokurdischen HDP die parlamentarische Immunität entzogen worden. Die Verfahren gegen die HDP-Abgeordneten stützten sich überwiegend auf angebliche Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze. Nach Abschluss der Verfahren könnten einige dieser Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Aktuell befänden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Stand: 30.12.2016). Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht. Seit Juli seien per Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen worden; ca. 3.000 Journalisten hätten durch Schließungen ihren Job verloren und hätten - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - keine Aussicht darauf, einen neuen zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen werde häufig ebenfalls der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. 140 Journalisten säßen nach Angaben von Human Rights Watch derzeit in Haft (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei, Stand 04.01.2017; siehe auch ZEIT ONLINE, 26.12.2016: "Anti-TerrorPolizei nimmt HDP-Vizechefin fest"; ZEIT ONLINE, 30.12.2016: "Haftbefehl gegen kritischen Journalisten in der Türkei erlassen", dieser Artikel betrifft den Journalisten und Buchautor Ahmet Sik; zur Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel: ZEIT ONLINE, 27,02.2017: "Richter ordnet Untersuchungshaft gegen "Welt"-Korrespondenten an"). Zur Freilassung von Deniz Yücel siehe unten.

Auch nach dem 04.01.2017 wurden weitere 6000 Bedienstete entlassen (ZEIT ONLINE, 07.01.2017: "Türkei entlässt weitere 6000 Bedienstete"). Betroffen seien Polizisten, Angestellte des Justiz- und Gesundheitsministeriums und Universitätslehrkräfte. Auch gegen fast 400 Unternehmer wurden Haftbefehle erlassen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden (ZEIT ONLINE, 05.01.2017: "Behörden erlassen Haftbefehl gegen 380 Unternehmer"). Wer in der Türkei Aussagen etwa über die PKK online veröffentlicht, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. 1.656 Menschen sind inhaftiert worden wegen Beiträgen in sozialen Medien unter anderem über die PKK, in 3700 Fällen wird ermittelt (ZEIT ONLINE, 24.12.2016: "Mehr als 1000 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien"; ZEIT ONLINE, 28.2.2017: "Jeder kann zum Terrorverdächtigen werden"). Sogar in Deutschland müssen türkische Staatsbürger damit rechnen, dass etwaige Kritik an der türkischen Regierung bzw. Aussagen zur PKK dem türkischen Generalkonsulat gemeldet werden (ZEIT ONLINE, 23.02.2017: "Türkei fordert offenbar zu Spitzelei an Schulen auf' und SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017: „Willkommen in Istanbul, Sie sind festgenommen" zur Festnahme von Deutschen und Österreichern mit Wurzeln in der Türkei, die nach ihrer Ankunft am Flughafen Istanbul festgenommen worden sind - wohl wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Möglicherweise wurden sie zuvor bespitzelt).

Soweit es im oben erwähnten Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand 04.01.2017 im weiteren Verlauf zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern noch heißt, dass dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden sei. (Seite 29), kommt diesen Ausführungen nach der mittlerweile eingetretenen weiteren Verschärfung der Situation in der Türkei und der Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland keine Aussagekraft mehr zu. Diese Passage stimmt wörtlich mit dem Lagebericht mit Stand August 2015 überein, der noch vor dem gescheiterten Putschversuch des Jahres 2016 erstellt worden ist, und ist nicht mehr aktuell. So berichten die Medien - wie bereits ausgeführt - sogar über Festnahmen bei der Einreise von Deutschen und Österreichern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Laut Aussage eines westlichen Diplomaten gehe man von einer "hohen zweistelligen Zahl jeden Monat" aus. Von einem "Spitzelwerk im Ausland" ist die Rede und auch davon, dass es für die oben erwähnten Personen "ein unkalkulierbares Risiko" darstelle, "in die Türkei zu reisen"(SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017, a.a.O.; vgl. zur Rückkehrgefährdung in die Türkei schon kurz vor dem Putschversuch: Nieders. OVG, Urteil vom 31.05.2016 - 11 LB 53/15 -, InfAuslR 2016, 450).

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe verneint zwar eine Verhaftung bei Rückkehr nur aufgrund der kurdischen Ethnie, ist allerdings der Ansicht, dass die Behörden eine Festnahme mit illegalen Aktivitäten begründen würden, welche unter die Anti-Terrorgesetzgebung fallen. Es sei nicht möglich auszuschließen, dass eine Person willkürlich verhaftet werde (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 17.02.2017, Seite 3). Diese Einschätzung ist indessen erfolgt aufgrund Aussagen von Kontaktpersonen, die türkischen Menschenrechtsorganisationen angehören und die am 10. bzw. 18.01.2017 befragt worden sind. Wie oben bereits erwähnt, ist es jedoch in der Folgezeit zu willkürlichen Verhaftungen bei Einreise in die Türkei gekommen (vgl. zusätzlich ZEIT ONLINE, 11.05.2017: "Journalistin aus Ulm in Istanbul verhaftet"). Auch ist nicht auszuschließen, dass sich die Kontaktpersonen selbst bedroht fühlen und sich aus diesem Grunde scheuen, eine allzu kritische Haltung gegenüber der türkischen Regierung einzunehmen. So ist es am 07.06.2017 zur Verhaftung des Chefs von Amnesty International Taner Kilic gemeinsam mit 22 weiteren Anwälten wegen angeblicher Unterstützung der Gülen-Bewegung gekommen (ZEIT ONLINE, 07.06.2017: "Türkei-Chef von Amnesty International verhaftet").

Wie oben bereits erwähnt, war der der WELT-Korrespondent Deniz Yücel im Februar 2017 inhaftiert worden und befand sich über ein Jahr in türkischer Gefangenschaft, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden wäre. Auch nach seiner Freilassung am 16.02.2018 sitzen jedoch noch immer über 150 Journalisten und Journalistinnen in türkischen Gefängnissen. Zur Dokumentation jedes einzelnen Falles siehe bspw. ZEIT ONLINE vom 21.11.2017 (wird ständig aktualisiert): "Gericht verurteilt weiteren "Cumhuriyet"-Journalisten zu Haft" - Oguz Güven soll sich der Terrorpropaganda schuldig gemacht haben). Gegen viele der inhaftierten Journalisten liegt keine konkrete Anklage vor, die Vorwürfe sind häufig vage formuliert. Bei anderen kann man nur vermuten, dass die Verhaftung mit ihrer journalistischen Arbeit zusammenhängt. Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan jedenfalls macht sich ein Journalist bereits mit Terroristen gemein, wenn er sie interviewt. Die Zahl der inhaftierten Journalisten war zum Jahreswechsel 2017/2018 etwas zurückgegangen. Im Zuge der gegen kurdische Milizen im Norden Syriens gerichteten türkischen Militäroffensive "Operation Olivenzweig", die am 20.01.2018 begonnen hatte, wurden jedoch wieder vermehrt Journalisten in Polizeigewahrsam genommen. Allein zwischen dem 20. und 24. Januar gab es 150 Festnahmen, die sich gegen Kritiker des Militäreinsatzes gerichtet hatten. Die Inhaftierten müssen wegen des immer noch geltenden Ausnahmezustandes mit einer Untersuchungshaft rechnen, die bis zu 5 Jahren dauern kann. Bezeichnend ist auch, dass am Tage der Freilassung von Deniz Yücel sechs Journalisten zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden (SPIEGEL ONLINE vom 28.02.2018: "Freilassung von Deniz Yücel - Deutschland darf jetzt nicht ausruhen). Im Januar 2018 startete die Türkei die Offensive "Operation Olivenzweig" gegen die Kurdenmiliz YPG in Syrien. Seither hat sie annähernd 800 eigene Bürger festgenommen. Dabei hatten diese bloß demonstriert oder in sozialen Medien Kritik geäußert (SPIEGEL Online vom 19.02.2018: "Operation Olivenzweig" - Türkei nimmt Hunderte Gegner der Syrienoffensive fest).

Davon ausgehend steht im vorliegenden Fall zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Maßnahmen drohen. Der Kläger muss im Falle seiner Rückkehr bei der Einreise damit rechnen, wegen Terrorunterstützung festgenommen und inhaftiert zu werden sowie asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, da er bereits vor seiner Ausreise ins Visier der Sicherheitskräfte geraten ist. Wie bereits ausgeführt, glaubt die Einzelrichterin dem Kläger, dass er an einen Dorfbewohner … verkauft hat und deshalb wegen Unterstützung der PKK ins Visier der Sicherheitskräfte geraten ist. Hinzu kommt, dass er sich auch nach seiner Ausreise hier in Deutschland in nennenswertem Umfang exilpolitisch betätigt sowie an Demonstrationen und Mahnwachen teilgenommen hat, wobei er auch als Ordner eingesetzt war. Schließlich hat sich das Gericht auch davon überzeugen können, dass sich der Kläger über Facebook kritisch gegenüber dem Präsidenten der Türkei geäußert hat, was dem auch in Deutschland allgegenwärtigen türkischen Geheimdienst nicht verborgen geblieben sein kann, davon abgesehen, dass auch in Deutschland die türkisch-stämmige Bevölkerung dazu aufgerufen ist, ihre hier lebenden Landsleute zu bespitzeln. Der Kläger muss deshalb im Falle einer Rückkehr bei der Einreisekontrolle konkret und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Maßnahmen rechnen. Der Klage ist daher stattzugeben. [...]