BSG

Merkliste
Zitieren als:
BSG, Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 17/16 R - asyl.net: M26467
https://www.asyl.net/rsdb/M26467
Leitsatz:

Ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU kann auch bei einer Kumulierung  mehrerer Beschäftigungsverhältnisse von insgesamt mehr als einem Jahr entstehen (auch wenn diese durch kurze Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochen sind).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitnehmerbegriff, Erwerbslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Leistungsausschluss, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

22 § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU setzt keine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als einem Jahr voraus. Auch durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Tätigkeiten können das gesetzliche Erfordernis erfüllen (vgl. SG Chemnitz vom 14.3.2017 - S 26 AS 405/17 ER - juris RdNr. 7 ff.; Leopold in jurisPK-SGB II, § 7 RdNr. 99.12, Stand 8.6.2017; Brinkmann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl 2016, § 2 FreizügG/EU RdNr. 49; Oberhäuser in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl 2016, § 2 FreizügG/EU RdNr. 38; Tewocht in Beck scher Online-Kommentar Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU RdNr. 52, Stand 1.2.2017; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.5.2015 - 12 B 312/15 - juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU RdNr. 85, Stand April 2013; Epe in GK-Aufenthaltsgesetz, § 2 FreizügG/EU RdNr. 122, Stand Oktober 2010). Dies folgt aus einer an Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte des FreizügG/EU ausgerichteten Gesetzesauslegung. [...]

24 Die Annahme, dass ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erst nach ununterbrochener Tätigkeit von mehr als einem Jahr vorliegt, lässt sich nicht auf den Wortlaut des Gesetzes stützen. Mit der Wendung "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit" wird ein deutlich weiterer Sachverhalt erfasst, der nicht auf das Merkmal einer durchgängigen Tätigkeit eingeengt werden kann. Der Gesetzestext hebt in diesem weiteren Sinne auf einen Durchlauf von Beschäftigungsmonaten und nicht auf aneinandergereihte Kalendermonate ab (vgl. Oberhäuser in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl 2016, § 2 FreizügG/EU RdNr. 38). Auch der Wortlaut der entsprechenden Bestimmung in Art. 7 Abs. 3 Buchst b) der Richtlinie 2004/38/EG, deren Umsetzung § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU dient und in unionsrechtskonformer Übereinstimmung mit dieser nationales Recht auszulegen ist (vgl. BSG vom 27.5.2014 - B 5 RE 8/14 R - juris RdNr. 58 ff.), spricht von lediglich "mehr als einjähriger Beschäftigung", nicht aber von der Dauer einer Beschäftigung von mehr als einem Jahr, die zudem nicht unterbrochen werden darf. Eine richtlinien- und damit unionrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts darf hinter diesem weiten Verständnis nicht zurückbleiben. [...]

29 Der hiernach mit § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU verfolgte Zweck, einem genügend in den Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer das Freizügigkeitsrecht bei Eintritt unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu erhalten, erfordert keine ununterbrochene Beschäftigungsdauer von "mehr als einem Jahr", um in der gebotenen Weise sichergestellt zu sein (so aber OVG Nordrhein-Westfalen vom 22.5.2015 - 12 B 312/15 - juris RdNr. 20; Hailbronner, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU RdNr. 85, Stand April 2013). Strebt etwa ein Freizügigkeitsberechtigter in einem Beschäftigungsverhältnis einen Wechsel des Arbeitgebers an, so kann das Integrationsbestreben des Betroffenen nicht allein wegen dieses Ansinnens in Frage gestellt werden. Im Gegenteil kann ein Wechsel des Arbeitsplatzes trotz einer dadurch ggf entstehenden kürzeren Unterbrechung der Tätigkeit auf ein Integrationsbestreben hindeuten. Der Zwang, für die Dauer eines Jahres durchgehend in einem Arbeitsverhältnis zu verbleiben, kann sich andererseits als kontraproduktiv für die Integration des Unionsbürgers erweisen. [...]