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VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 25.04.2018 - 6 K 116/17.GI.A - asyl.net: M26447
https://www.asyl.net/rsdb/M26447
Leitsatz:

Äthiopische Staatsangehörige haben weiterhin nur dann wegen einer exilpolitischen Betätigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn sie sich aus dem Kreis der bloßen Mitläufer als ernsthafte Oppositionelle hervorheben (hier entschieden für eine Mitgliedschaft in der TBOJ/UOSG).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Äthiopien, Exilpolitik, Asylrelevanz, politische Verfolgung, Oromo, OLF, TBOJ/UOSG,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Ansicht des Klägers ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ihm bei einer Rückkehr nach Äthiopien eine Verfolgung wegen einer regierungskritischen exilpolitischen Betätigung für die TBOJ/UOSG in der Bundesrepublik Deutschland drohen würde. Zwar mag diese Vereinigung, wie in den von dem Kläger vorgelegten Mitgliedsbescheinigungen angegeben, der Oromo-Befreiungsfront (OLF) nahe stehen, die in Äthiopien als Terrororganisation gelistet ist (s. zu Letzterem Auswärtiges Amt, Lagebericht Äthiopien vom 22.3.2018). Aber auch nach der am 16.2.2018 erfolgten erneuten Verhängung des zuvor vom 9.10.2016 bis zum 4.8.2017 geltenden Ausnahmezustandes in Äthiopien ist an der bisherigen Rechtsprechung (vgl. dazu etwa OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.08.2010, Az.: 8 A 4063/06.A, Juris, Hess. VGH, Beschluss vom 31.05.2012, Az.: 10 A 436/12.Z.A. n.v.) festzuhalten, wonach äthiopische Staatsangehörige wegen regierungskritischen exilpolitischen Aktivitäten nur dann mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben, wenn sich der Betroffene aus dem Kreis der bloßen Mitläufer als ernsthafter Oppositioneller hervorhebt (VG Gießen, Urteil vom 11.07.2017, Az. 6 K 4787/15.GI.A; VG Kassel, Urteil vom 22.02.2018, Az. 1 K 302/17.KS.A; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 29.08.2017, Az. 5 K 1900/17.F.A; VG Regensburg, Urteil vom 24.01.2018, Az. RO 2 K 16.32411;VG Ansbach, Urteil vom 14.02.2018, Az. AN 3 K 16.31836; a.A. VG Würzburg, Urteil vom 15.09.2017, Az. W 3 K 17.31180; jeweils juris).

Maßgeblich ist dabei, dass das Auswärtige Amt zwar in seiner Auskunft vom 9.12.2016 an das Verwaltungsgericht Gießen zu einer exilpolitischen Betätigung in der EPPFG ausgeführt hat, wenn eine Mitgliedschaft in dieser Gruppe von der äthiopischen Regierung vermutet werde oder sogar Beweise vorlägen, sei es aus seiner Sicht wahrscheinlich, dass ihren Anhängern bei einer Rückkehr nach Äthiopien Haft für unbestimmte Zeit oder Misshandlung drohe, da Bestandteil der Regelungen zum Ausnahmezustand auch ein Kommunikationsverbot mit Terrorgruppen sei. Es hat demgegenüber aber in seiner Auskunft vom 13.11.2017 an das Verwaltungsgericht Würzburg zu exilpolitischen Betätigungen in verschiedenen Organisationen (u.a. EDFM und EPCOU) "lediglich" ausgeführt, dass eine einfache Mitgliedschaft/Unterstützung bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich ziehe, könne nicht ausgeschlossen werden. Ferner hat das Amt in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien vom 6.3.2017 und insbesondere auch in dem aktuellen vom 22.03.2018 ausdrücklich ausgeführt, ihm lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass allein die Betätigung für eine oppositionelle Organisation im Ausland bei Rückkehr nach Äthiopien zu staatlichen Repressalien führe. Grundsätzlich komme es darauf an, ob eine Organisation von den äthiopischen Stellen als terroristisch angesehen und welche Art exilpolitischer Aktivität festgestellt werde (führende Position, Organisation gewaltsamer Aktionen). Von Bedeutung sei auch, ob und wie sich eine zurückgeführte Person anschließend in Äthiopien politisch betätige. Die bloße Asylantragstellung im Ausland bleibe, soweit bekannt, ohne Konsequenzen. Schließlich wird in dem aktuellen Lagebericht auch angegeben, dass bisher keine Fälle bekannt seien, in denen zurückgekehrte Äthiopier Benachteiligungen oder der Festnahme oder Misshandlung ausgesetzt waren. Eine Rückkehr werde jedoch häufig im direkten persönlichen Umfeld als Scheitern gewertet. Es gebe viele Berichte über Personen, die nach einer zwangsweisen Rückkehr erneut den Weg nach Europa suchen würden.

Das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien führt in seiner Auskunft vom 30.1.2017 an das Verwaltungsgericht Gießen zu einer exilpolitischen Betätigung in der EPPFG unter Bezugnahme auf die Verhaftung eines führenden Oppositionspolitikers im Dezember 2016 sowie im großen Stil vorgenommene Massenverhaftungen aus, es sei keinesfalls auszuschließen, dass Äthiopiern, die sich zuvor im Ausland politisch bzw. regierungskritisch geäußert haben, Verhaftung für unbestimmte Zeit drohe, selbst wenn sie keine führende Stellung hätten. Die Messlatte für Verhaftungen liege derzeit sehr niedrig, es sei zu Verhaftungen schon aufgrund bloßer regierungskritischer Äußerungen im privaten Bereich gekommen. Dasselbe Institut gibt in seiner eine exilpolitische Betätigung in verschiedenen Organisationen betreffenden Auskunft vom 1.11.2017 an das Verwaltungsgericht Würzburg einerseits an, es sei wahrscheinlich, dass Personen, die sich in einer der genannten Organisationen aktiv betätigten, bei einer Rückkehr nach Äthiopien Haft auf unbestimmte Zeit sowie auch Misshandlung drohe, die in äthiopischen Gefängnissen an der Tagesordnung sei. Andererseits wird aber auch ausdrücklich ausgeführt, dass aufgrund eines hohen Maßes an Willkür und des Mangels an rechtsstaatlichen Verfahren keinesfalls auszuschließen sei, dass lediglich eine einfache Mitgliedschaft oder die Unterstützung einer als terroristisch angesehenen Organisation in nicht hervorgehobener Position zu Verfolgung führen könne.

Der Gutachter Günter Schröder geht in seiner Stellungnahme vom 15.02.2017 an das Verwaltungsgericht Gießen zu einer exilpolitischen Betätigung in der EPPFG davon aus, dass eine Verfolgungsprognose anhand bestimmter Merkmale nicht abgegeben werden könne, weil das Handeln der äthiopischen Sicherheits- und Justizbehörden gegenüber allen wirklichen und putativen Gegnern von einem hohen Maß an Willkürlichkeit geprägt sei. Unter diesem Gesichtspunkt sei generell die Unterscheidung zwischen unbedeutender und exponierter Stellung in einer Oppositionsorganisation als nicht relevant für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr anzusehen. Dies gelte in besonderem Maß seit dem Erlass der Anti-Terrorismusgesetze und gerade auch unter dem am 09.10.2016 verhängten Ausnahmezustand. Die konkreten Verfolgungsmaßnahmen seien aufgrund der Willkürlichkeit und der mangelnden Rechtsstaatlichkeit im Einzelnen nicht vorhersagbar. Eine längere Inhaftierung verbunden mit intensiver Befragung und mit hoher Wahrscheinlichkeit inhumanen Haftbedingungen sei aber auch unter dem Ausnahmezustand als Minimum anzunehmen. In gleicher Weise hat sich der Gutachter in seiner Stellungnahme vom 18.2.2018 für das Verwaltungsrecht Würzburg zu einer Betätigung in verschiedenen exilpolitischen Organisationen geäußert. Auch in dieser führt er aus, es sei mit hoher Wascheinigkeit davon auszugehen, dass ein sich in einer solchen Organisationen Betätigender bei einer Rückführung nach Äthiopien einem sehr hohen Risiko ausgesetzt sein würde, als Unterstützer einer "terroristischen Organisation" verfolgt und äußerst bestraft zu werden. Zugleich wiederholt er aber, dass dem Handeln der äthiopischen Sicherheitsbehörden in der Verfolgung von wirklichen oder putativen Gegnern ein hohes Maß an Beliebigkeit und Willkür eigen sei, weshalb eine quantifizierende Relation zwischen Umfang der politischen Aktivitäten und oder Funktion in einer Organisation und Verfolgungsintensität nicht aufzustellen sei.

Bei Würdigung dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass die Toleranzschwelle des äthiopischen Staates gegenüber exilpolitischen Aktivitäten seiner Staatsangehörigen sehr gering ist, so dass nicht nur medienwirksam exponierte Führungspersönlichkeiten der als terroristisch angesehenen illegalen Opposition bedroht sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass jedenfalls Personen, die sich exponiert politisch betätigt haben, mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben. Dagegen ist zur Überzeugung des Gerichts nach Auswertung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen eine Verfolgung von nicht herausgehobenen politisch tätigen Personen zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch wenn eine niedrige Toleranzschwelle des äthiopischen Staates berücksichtigt wird, kann bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalles von einer beachtlich relevanten Verfolgungsgefahr nur dann ausgegangen werden, wenn sich der Betreffende aus dem Kreis der bloßen Mitläufer hervorhebt und als möglicher ernsthafter Oppositioneller in Frage kommt. Denn nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes kann "lediglich" nicht ausgeschlossen werden, dass eine einfache Mitgliedschaft/Unterstützung in exilpolitischen Organisationen bei einer Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht. Insbesondere sind dem Amt bisher keine Fälle bekannt, in denen zurückgekehrte Äthiopier Benachteiligungen oder der Festnahme oder Misshandlung ausgesetzt waren. In diesem Sinne spricht auch das Leibniz-Institut in seinen zitierten Auskünften davon, dass keinesfalls auszuschließen sei, dass lediglich eine einfache Mitgliedschaft oder Unterstützung einer als terroristisch angesehenen Organisation in nicht herausgehobener Position zu Verfolgung führen könne. Soweit darüber hinaus in der Auskunft vom 1.11.2017 davon gesprochen wird, es sei wahrscheinlich, dass Personen, die sich in einer der genannten Organisationen aktiv betätigten, bei einer Rückkehr nach Äthiopien Haft auf unbestimmte Zeit sowie auch Misshandlung drohe, wird dies nicht näher belegt. Schließlich ist in Bezug auf die Einschätzung des Gutachters Schröder, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der sich in einer exilpolitischen Organisation Betätigende bei eine Rückführung nach Äthiopien einem sehr hohen Risiko ausgesetzt sein würde, als Unterstützer einer "terroristischen Organisation" verfolgt zu werden, festzuhalten, dass dieser in seinem Gutachten selbst ausführt, angesichts der Willkürlichkeit im Handeln der Sicherheitsorgane und der mangelnden Rechtsstaatlichkeit in Äthiopien lasse sich die Reaktion der Sicherheitsorgane nicht im einzelnen Vorhersagen. Ferner bleibt er ebenso wie das Leibniz-Institut konkrete Beispiele für ein Einschreiten äthiopischer Stellen bei Rückkehrern schuldig.

In der vorgenannten Einschätzung sieht sich das Gericht durch die aktuelle politische Lage in Äthiopien bestärkt. Denn seit dem 2.4.2018 ist mit Dr. Abiy Ahmed A. ein Angehöriger der Volksgruppe der Oromo Premierminister. Dieser hat bei seiner Vereidigung ausdrücklich betont, dass politischer Pluralismus ein Muss sei, denn das sei ein Grundstein dafür, dass die Demokratie funktioniere. Ferner führte ihn seine erste Amtsreise in einen der Unruheherde des Landes, die Grenzregion zwischen den Siedlungsgebieten der Oromo und der Somali und hat er in Addis Abeba Oppositionspolitiker, Vertreter der Zivilgesellschaft und religiöse Führer empfangen. Dass er die Politik der Regierungskoalition nicht einfach fortsetzen will, hat er vor allem auch dadurch gezeigt, dass unter seiner Führung Hunderte von Oppositionsanhängern freigelassen worden sind, die nach einer Amnestie im Januar zwar aus der Haft entlassen, anschließend jedoch gleich wieder festgenommen worden waren. Außerdem wurde inzwischen das berüchtigte Makelawi-Gefängnis in Addis Abeba geschlossen (vergleiche zum Ganzen die Presseartikel "Halber Machtwechsel", taz vom 3.4.2018; "Man nennt ihn Äthiopiens Barack Obama", FR vom 10.4.2018 und "Äthiopiens neuer Premier wirbt für Zusammenarbeit und Versöhnung", DW vom 13.4.2018).

Aufgrund dieser Sachlage besteht auch kein Anlass, der Anregung der Bevollmächtigten des Klägers zu folgen, das Verfahren im Hinblick auf den Beweisbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 (Az. 8 B 17.31645 u.a.) zu den Folgen einer nicht herausgehobenen exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Rückkehr nach Äthiopien gemäß § 94 VwGO auszusetzen. Weder konnte dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bei seiner Beschlussfassung die aktuelle Entwicklung in Äthiopien seit April 2018 bekannt sein, noch dürfte ihm dabei der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.3.2018 vorgelegen haben. [...]