[Dublin-Überstellung einer schwerbehinderten Person nach Frankreich nur mit individueller Zusicherung:]
Im Falle eines ständig auf fremde Hilfe angewiesenen Schwerbehinderten führen die systemischen Mängel bei der Inempfangnahme von Dublin-Rückkehrern in Frankreich jedenfalls zur Annahme eines Abschiebungsverbots, solange keine individuelle Zusicherung Frankreichs vorliegt, dass der Betreffende bei seiner Ankunft in Frankreich unmittelbaren Zugang zu Unterbringung und Versorgung hat.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
12 Denn die Abschiebungsanordnung stellt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls deshalb als rechtswidrig dar, weil nach gegenwärtigem Erkenntnisstand entgegen den Vorgaben des § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG derzeit nicht feststeht, dass der Antragsteller nach Frankreich abgeschoben werden kann.
13,14 Dem Bundesamt obliegt vor Erlass der Abschiebungsanordnung die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse sowie inlandsbezogener Vollzugshindernisse und Duldungsgründe. Für eine diesbezüglich originäre Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde ist daneben kein Raum, auch wenn solche der Abschiebung entgegenstehende Gründe erst nach Erlass der Abschiebungsanordnung auftreten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014, - 2 BvR 1795/14 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rdn. 4 und vom 3. März 2015 und - 14 B 102/15.A -, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, juris Rdn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rdn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rdn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rdn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, juris Rdn. 4 ff.).
15 Ein Duldungsgrund (§ 60a Absatz 2 Satz 1 AufenthG) liegt vor, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Vorliegend stehen der Abschiebung rechtliche Gründe entgegen.
16 Es spricht derzeit alles dafür, dass eine Unterbringung und Versorgung des halbseitig gelähmten und auf einem Auge blinden Antragstellers, auf die dieser zur Vermeidung erheblicher Gesundheitsgefahren durchgängig angewiesen ist, im Falle seiner Überstellung nach Frankreich nicht ohne Weiteres gewährleistet ist.
17-19 Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen (Hemiparese, Blindheit des linken Auges, Spina bifida) ist der Antragsteller ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attestes vom [...] 2018 nicht nur auf einen Rollstuhl, sondern zudem vollumfänglich auf fremde Hilfe bei jeglichen Verrichtungen in seinem Haushalt angewiesen. Nach dem jüngsten aida-Länderbericht des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) zu Frankreich (Stand: 31. Dezember 2017) (Seite 45 f; abrufbar unter: www.asylumineurope.org reports/ country/france ) stellt sich die Situation von Dublin-Rückkehrern in Frankreich wie folgt dar: Am Pariser Flughafen erhalten Dublin-Rückkehrer lediglich eine Mitteilung, bei welcher Präfektur sie ihren Asylantrag zu unterbreiten haben; für den Weg dorthin erhalten Sie jedoch keinerlei finanzielle oder organisatorische Unterstützung. Diese Präfekturen befinden sich zum Teil weit entfernt von Paris. Der weitere Ablauf bei den Präfekturen in der Umgebung von Paris ist unterschiedlich. Einige verwiesen die Rückkehrer an andere Registrierungsstellen, bei denen Termine zum Teil erst in mehreren Wochen vergeben werden. Andere Präfekturen in der Umgebung von Paris nehmen zwar die Registrierung sofort vor, leiten die Dublin-Rückkehrer dann jedoch weiter an eine andere, für die Unterbringung zuständige Stelle. Es gibt lediglich eine vom Roten Kreuz betriebene Stelle am Flughafen von Paris, bei der Dublin-Rückkehrer Hilfe erhalten können (Permanence d’accueil d’urgence humanitaire, PAUH). Seit Jahren wird deren Arbeit nicht mehr mit öffentlichen Mitteln unterstützt, so dass sie ebenfalls keine finanzielle Unterstützung für die Weiterreise der Dublin-Rückkehrer zu den für sie zuständigen Stellen aufbringen können. Die Situation am Flughafen in Lyon stellt sich ähnlich dar. Die Rückkehrer werden nicht empfangen oder unterstützt. Sie sind den gleichen Schwierigkeiten ausgesetzt, um Zugang zu einer Unterkunft zu erhalten.
20-21 Unter diesen Umständen hat eine Abschiebung des Antragstellers nach Frankreich zu unterbleiben, solange nicht im konkreten Fall die Übergabe des Antragstellers in eine seinen besonderen Bedürfnissen entsprechende Unterkunft gesichert erscheint (vgl. zum Erfordernis, dass der abschiebende Staat zunächst die individuelle Garantie einzuholen hat, dass eine Familie mit Kindern in Italien in einer Art und Weise in Obhut genommen wird, die dem Alter der Kinder angepasst ist, und dass die Familie zusammengehalten wird: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 4. November 2014, Az. 29217/12 (Tarakhel . /. Schweiz); BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 732/14 –, juris; Erfordernis einer individuellen Zusicherung vor Überstellung einer Schwangeren nach Frankreich: VG Magdeburg, Beschluss vom 29. März 2017 - 8 B 154/17 -, juris). [...]