VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 26.02.2018 - 3 A 148/16 - asyl.net: M26411
https://www.asyl.net/rsdb/M26411
Leitsatz:

[Kein Abschiebungsverbot für an Epilepsie erkrankten Afghanen:]

Eine dauerhaft behandlungsbedürftige Epilepsieerkrankung führt dann nicht zu einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs.7 AufenthaltsG, wenn das zur Behandlung der Epilepsie verordnete Medikament im Abschiebungszielstaat (hier: Afghanistan) regelmäßig und zu vertretbaren Kosten zu beziehen ist sowie das Krankheitsbild, insbesondere die voraussichtlich zu erwartende künftige Anfallshäufigkeit der Aufnahme einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nicht entgegensteht und daher zu erwarten ist, dass der Betroffene nach einem durch Rückkehrerhilfen überbrückbaren Übergangszeitraum auch künftig in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt sowie die Kosten für notwendige Medikamente und ärztliche Behandlungen selbst zu bestreiten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Krankheit, Epilepsie, erwerbsfähig, Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung, Versorgungslage, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

31 d) Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Sinne einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten Gefährdungssituation, die ein Abschiebungsverbot begründen würde. [...]

33 bb) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorgetragenen Epilepsieerkrankung des Klägers.

34 Aufgrund des vorgelegten Entlassungsberichtes des Klinikums B-Stadt vom 12.01.2017 steht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass der Kläger an einer seit seinem 9. Lebensjahr bestehenden Epilepsieerkrankung mit generalisierten Anfällen leidet. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung i. S. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthaltsG. Hingegen ist nicht ohne weiteres eine wesentliche Verschlechterung der Erkrankung durch die Abschiebung zu erwarten. [...]

36 Nach Auffassung des hessischen VGH (Urteil v. 11.12.2008 - 8 A 611/08.A – juris Rn 99) reicht es bei Vorliegen einer Epilepsieerkrankung unter den allgemeinen Gegebenheiten der Lebenssituation in Kabul zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthaltsG aus, dass ein an Epilepsie erkrankter Kläger seine medikamentöse Versorgung kaum dauerhaft sicherstellen könnte und im Fall von zweibis dreimal monatlich auftretenden Anfällen eine möglicherweise gefundene Erwerbstätigkeit verlieren würde (ähnlich auch VG Würzburg, Urteil vom 5.07.2016 - W 1 K 16. 30614 - juris Rn 41). [...]

38 Die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 60 Abs.7 S.2 AufenthaltsG liegt vor, wenn sich die Krankheit des Betroffenen mangels ausreichender Behandlungsmöglichkeit im Abschiebungszielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in einer Weise verschlimmert, die zu einer wesentlichen oder sogar lebensbedrohlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes führen würde. Diese Situation kann auch eintreten, wenn die im Rahmen der notwendigen medizinischen Behandlung erforderlichen Medikamente und Therapien für den Betroffenen tatsächlich nicht verfügbar sind. Dies kann nicht nur der Fall sein, wenn im Zielstaat die für die Behandlung benötigten Medikamente nicht beschafft werden oder die Therapien dort nicht angeboten werden. Daneben kann eine fehlende medizinische Behandlungsmöglichkeit sich auch aus finanziellen Gründen ergeben (Nds. OVG Beschl. v. 23.03.2009 - 10 LA 315/08 – juris; Nds. OVG, Beschl. v. 23.11.2015 – 9 LB 106/15 – juris). Es kann nach der zitierten Auskunft der deutschen Botschaft der Bundesreplik Deutschland in Kabul nicht davon ausgegangen werden, dass die vom Kläger benötigten Medikamente nicht verfügbar sein werden.

39 Es ist schließlich auch keineswegs beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, die für die medizinische Behandlung erforderlichen finanziellen Mittel in Höhe von ca. 15,- EUR je Monat aufzubringen. Zum einen könnte der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan die vom Land Niedersachsen zur Verfügung gestellten Rückkehrhilfen (Förderung der Rückkehr und Weiterwanderung von ausländischen Flüchtlingen (RdErl. d. MI v. 21. 6. 2016 – 15-12235-4.3.1/4.3.4.1.1 – VORIS 27100 – ) in Anspruch nehmen und damit seine medizinische Versorgung auch im Fall einer vorübergehenden Erwerbslosigkeit für einen Übergangszeitraum überbrücken. [...]

42 Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass sich das Krankheitsbild des Klägers im Fall einer Rückkehr aufgrund fehlender oder unzureichender Behandlungsmöglichkeiten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wieder verschlechtern wird, bestehen nicht. Aus einer Anfragebeantwortung der Deutschen Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kabul an das Verwaltungsgericht Darmstadt vom 11.05.2011 zum Aktenzeichen 2 K 837/10.DA.A. auf dessen Anfrage an das Auswärtige Amt vom 10.03.2011 ergibt sich, dass jedenfalls im German Medical Diagnostic Center in Kabul regelmäßige EEG Kontrollen unkompliziert möglich seien. Auch im Falle der Rückkehr nach Afghanistan stehen damit medizinische Einrichtungen zur Verfügung, in welchen sich der Kläger bei einem eigenverantwortlichen Umgang mit seiner Erkrankung zur Vermeidung einer künftigen erneuten Verschlechterung seines Krankheitsbildes untersuchen lassen könnte.

43 Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Kläger aufgrund seiner Epilepsieerkrankung auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan chancenlos ist und daher auf Dauer nicht in der Lage sein wird, die notwendigen finanziellen Mittel für den Erwerb von notwendigen Medikamenten und die Durchführung erforderlicher ärztlicher Untersuchungen zu beschaffen. Soweit der hessische Verwaltungsgerichtshof in der zitierten Entscheidung vom 11.12.2008 unterstellt hat, ein an Epilepsie erkrankter Betroffener, welcher zwei- bis dreimal monatlich an Anfällen leide, werde aus diesem Grund eine möglicherweise gefundene Erwerbstätigkeit bald wieder verlieren und daher nicht in der Lage sein, seine medikamentöse Versorgung dauerhaft sicherzustellen, ist zum einen nicht erkennbar, auf welche Tatsachengrundlage der hessische Verwaltungsgerichtshof diese Annahme gestützt hat. Die vom hessischen Verwaltungsgerichtshof gezogene Schlussfolgerung ist im Übrigen auf die Situation des Klägers bereits deshalb nicht anwendbar, da dessen Anfallshäufigkeit nach erfolgter gründlicher Untersuchung des Klägers im Klinikum B-Stadt und sachgerechter medikamentöser Einstellung nachhaltig deutlich auf einen Anfall alle zwei bis drei Monate zurückgegangen ist. [...]