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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 08.06.2018 - 3 K 406/16.KS.A - asyl.net: M26408
https://www.asyl.net/rsdb/M26408
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen afghanischen Mann:

1. Die Annahme, dass junge, alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige afghanische Männer sich in Kabul eine Existenz aufbauen können, lässt sich in ihrer allgemeinen Form auf Grund des neuen Lageberichts des Auswärtigen Amts vom 31. Mai 2018 so nicht mehr aufrechterhalten (in expliziter Abgrenzung zur eigenen, früheren Rechtsprechung).

2. Dem Kläger ist auf Grund der verschlechterten humanitären und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan, fehlender familiärer oder sozialer Netzwerke sowieso psychischer Einschränkung ein Abschiebeverbot zu erteilen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzgrundlage, psychische Erkrankung, Kabul, Abschiebungsverbot, Lagebericht, Existenzminimum, Rückkehr, alleinstehende Männer, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]
Allerdings liegt ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG vor. [...]

Der Einzelrichter ist der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe eine Abschiebung des Klägers mit einer Verletzung von Art. 3 EMRK verbunden wäre, weil zum einen die verschlechterte humanitäre und wirtschaftliche Lage in Afghanistan sich verschlechtert hat, weil es für den Kläger nicht möglich ist, verlässliche soziale bzw. familiäre Netze zu erreichen und in Anspruch zu nehmen und weil der Kläger an erheblichen psychischen Einschränkungen leidet, die es ihm zusätzlich erschweren, seine Existenz zu sichern.

Noch auf der Grundlage der früheren Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016 und vom 28.07.2017 ging der Einzelrichter davon aus, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen und die Sicherheitslage in Afghanistan nicht in einer Weise negativ verdichtet hatten, dass sie zu einem Abschiebungsverbot für den Zielstaat Afghanistan hätten führen können. Auf der Grundlage der früheren Quellenlage hat der Einzelrichter wie die Mehrheit der Verwaltungsgerichte angenommen, dass alleinstehende, männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige, die keine gesundheitlichen Einschränkungen aufweisen, trotz der allgemein schwierigen Versorgungslage sich eine neue Existenz in Kabul oder in einer anderen größeren Stadt Afghanistans aufbauen können (vgl. BayVGH, Urteil vom 11.04.2017 - 13a ZB 17.30294 -; juris-Rdnr. 5; Hess.VGH, Beschluss vom 27.09.2017 - 7 A 1827/17.Z.A -, juris-Rdnr. 18 m.w.N.). Diese Annahme lässt sich in ihrer allgemeinen Form auf der Grundlage des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 31.05.2018 so nicht mehr aufrechterhalten.

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass sich die humanitäre Lage aufgrund der Steigerung der Armutsrate verschlechtert hat und ein rapides Bevölkerungswachstum (Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation) stattfindet. Das Auswärtige Amt führt diesbezüglich aus, dass diese Faktoren es dem afghanischen Staat unmöglich machen, die Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung zu befriedigen. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum sei kurzfristig nicht in Sicht. Die Arbeitslosenquote sei im Zeitraum von 2008 bis 2014 von 25% auf 39% gestiegen. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Ein Drittel der Bevölkerung benötige humanitäre Hilfe. Ein Drittel der Kinder seien akut unterernährt. Für das Jahr 2018 wird zudem eine Dürre mit erheblichen Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung vorhergesagt.

Für zurückkehrende Flüchtlinge ergeben sich insbesondere vor dem Hintergrund der großen Zahl der Heimkehrer aus den Nachbarländern und der Binnenflüchtlinge besondere Schwierigkeiten. Maßgeblich für die Sicherung einer Existenz ist nach den Ausführungen des Auswärtigen Amtes, dass Rückkehrer auf ein soziales und familiäres Netz am Ankunftsort zurückgreifen können. Was die bislang auf der Grundlage der früheren Quellenlage vom Einzelrichter angenommenen Existenzmöglichkeiten für junge alleinstehende Männer in der Hauptstadt Kabul betrifft, auf die auch der angegriffene Bescheid (Seite 10 oben) entscheidungserheblich rekurriert, ist der Einzelrichter der Auffassung, dass sich zum einen aufgrund der mittlerweile verschärften humanitären Lage in der Hauptstadt Kabul und aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers für ihn eine Situation ergibt, die bei seiner Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen würde.

Neben der allgemeinen prekären Lage kommen für den Antragsteller individuelle Gesichtspunkte hinzu, die bei einer Rückkehr für ihn eine unmittelbare Existenzgefährdung und damit eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen. Der Antragsteller ist aufgrund erheblicher psychischer Erkrankungen nicht in der Lage, die mit einer Rückkehr nach Afghanistan verbundenen existenziellen Schwierigkeiten zu bestehen. Seit seiner Einreise in das Bundesgebiet ist der Antragsteller durchgehend in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Ihm werden verschiedene Erkrankungen attestiert, wie eine posttraumatische Belastungsstörung, eine depressiven Störung sowie wiederkehrende Panikstörungen. In verschiedenen Attesten (Klinikum … vom … 2014, vom … 2014, vom … 2015, vom … 2016, vom … 2017 und zuletzt vom… 2017 werden von den behandelnden Fachärzten und Psychotherapeuten übereinstimmend die vorgenannte Krankheitsbilder angenommen. Den Gutachten lässt sich entnehmen, dass der Kläger psychisch nur sehr eingeschränkt belastbar ist. Ist er Belastungen ausgesetzt, äußert sich dies bei ihm in Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen. Eine intellektuelle und auch körperliche Leistungsfähigkeit erscheint der Kläger anhand der geschilderten Umstände nur in einem geschützten Bereich und einem sicheren sozialen Umfeld zu entwickeln. Der Kläger bringt erkennbar nicht die erforderliche Robustheit mit, um den ihn erwartenden Existenzkampf bei seiner Rückkehr nach Afghanistan bestehen zu können.

Der Kläger ist nach der Auffassung des Einzelrichters und entgegen dem angegriffenen Bescheid nicht in der Lage, bei seiner Rückkehr auf unterstützende und helfende soziale Netze zurückzugreifen. Im Hinblick auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid, wonach der Kläger auch in Ansehung seiner gesundheitlichen Einschränkungen auf das soziale Netz seiner Großfamilie zurückgreifen kann, ist zunächst zu beachten, dass der Kläger nicht aus Kabul oder einer der großen Städte Afghanistans stammt, die unmittelbar auf dem Luftwege von Deutschland aus zu erreichen sind. Der Kläger war mit seiner Familie zwar zuletzt in Jalalabad ansässig, stammt aber ursprünglich aus einer dörflichen Region im Bezirk Kunar. Soweit der angegriffene Bescheid darauf abstellt, der Kläger könne in seiner Heimatprovinz Unterstützung und Auskommen finden, ist angesichts der Ausführungen im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 31 05.2018 (dort S. 20, wonach Sicherheitsbedenken die zentrale Hürde für Afghanen seien, sich frei im Land bewegen zu können) nicht anzunehmen, dass er die Heimat seiner Familie ohne erhebliche Gefährdungen von Leib und Leben überhaupt erreichen kann. Das Auswärtige Amt führt in seinem Bericht aus, besonders betroffen von Gefährdungen sei das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hätten ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfälle auf Landstraßen. Es gebe keinen Schienenverkehr. Auf dieser Grundlage erscheint es dem Antragsteller kaum möglich, das soziale Netz seiner Herkunftsfamilie in der Provinz Kunar oder in Jalalabad überhaupt erreichen zu können.

Zusammenfassend ist auf der Grundlage der individuellen Einschränkungen des Klägers, der verschlechterten allgemeinen Lage in Afghanistan und der Ermangelung eines erreichbaren wirksamen sozialen Netzwerks mit der Abschiebung des Klägers in sein Heimatland Afghanistan eine Verletzung von Art. 3 EMRK verbunden. [...]