VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 15.03.2018 - 12 K 5121/16.F.A - asyl.net: M26392
https://www.asyl.net/rsdb/M26392
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Lehrer aus Syrien:

1. Die Ausreise eines Staatsbediensteten ohne die erforderliche Genehmigung seitens der syrischen Regierung wird als Ausdruck von politischem Dissens angesehen.

2. Einem Vater, dessen Söhne sich dem Militärdienst entzogen haben oder desertiert sind, droht die Gefahr der Reflexverfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Berufsgruppe, illegale Ausreise, Beamte, Desertion, Sippenhaft, Flüchtlingsanerkennung, Familienflüchtlingsschutz, Reflexverfolgung, Genehmigung, Wehrdienstverweigerung, Militärdienst, Desertion, Familienangehörige, politische Verfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]
Hinsichtlich des Klägers zu 1) ergibt sich die begründete Furcht vor Verfolgung bei Rückkehr in sein Heimatland zunächst aus dem Umstand, dass der Kläger zu 1) als Staatsbediensteter sein Heimatland ohne die erforderliche Genehmigung verlassen hat. Staatsbedienstete genießen in Syrien keine unbeschränkte Reisefreiheit, sondern brauchen eine Ausreisegenehmigung des jeweiligen Ministeriums. Je nach ihrer Position kann eine solche Genehmigung mit bestimmten Auflagen verknüpft sein (UNHCR, "relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien. Februar 2017"). In einer Entscheidung des Österreichischen Bundesverwaltungsgerichts vom 29.12.2016 (W 170 2131507-1) heißt es unter Berufung auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 20.1.2015 "Syrien - Bewilligung von Auslandsreisen", dass einem Beamten, der Syrien ohne die nötige Ausreisebewilligung verlässt, eine Geldstrafe oder eine Haftstrafe von bis zu 3 Jahren droht. Der Kläger hat Syrien ohne die für ihn erforderliche Ausreisebewilligung verlassen, er hat daher bei Rückkehr in sein Heimatland die oben genannten Konsequenzen zu befürchten. Darüber hinaus ist das Gericht der Überzeugung, dass die Ausreise eines Staatsbediensteten ohne die erforderliche Genehmigung seitens des syrischen Regimes auch als Ausdruck von politischem Dissens angesehen wird. Nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Unterlagen wird z.B. auch Wehrdienstentziehung von der syrischen Regierung als mangelnde Bereitschaft, das Vaterland gegen "terroristische" Bedrohung zu schützen und damit als "regierungsfeindliche" Handlung angesehen. Vergleichbar mit der Regelung für Beamte hat die syrische Regierung im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits ihren Wehrdienst abgeleistet haben (Auskunft des Deutschen Orient-Instituts/Deutsche Orient-Stiftung an den Hessischen VGH vom 01.02.2017). Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer untermauert das Ausreiseverbot für diesen Personenkreis. dass das Regime ein Entziehen der betreffenden Personen von der Wehrpflicht als straf- und verabscheuenswürdig ansieht. Daher geht das Gericht davon aus, dass auch Staatsbedienstete, die im derzeit herrschenden Bürgerkrieg in Syrien ihren Aufgabenbereich ohne die erforderliche Genehmigung verlassen, als Regimegegner angesehen werden und ihnen dementsprechend im Rahmen der Sanktionen wegen der unerlaubten Ausreise auch Folter oder unmenschliche Behandlung droht.

Hinzu kommt, dass der Kläger zu 1) auch wegen seiner Söhne, die sich dem Militärdienst entzogen haben, insbesondere wegen des Sohnes, der vom Militär desertiert ist, ins Blickfeld der syrischen Sicherheitskräfte geraten könnte.

In einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes gegenüber dem VG Köln vom 13.09.2017 heißt es. dass aufgrund der in Syrien vom Regime praktizierten Sippenhaft negative Konsequenzen für möglicherweise in Syrien verbliebene Familienangehörige nicht ausgeschlossen sind. Auch nach Erkenntnislage des Deutschen Orientinstituts ist in Syrien ein nennenswerter Grad an Sippenhaft zu erkennen, der zufolge eine Gruppenzugehörigkeit die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen erhöht (Auskunft an den Hess. VGH v. 01.02.2017). Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in der einer Stellungnahme vom 25.01.2017 unter Bezugnahme auf andere Quellen, dass Reflexverfolgung ein vertrautes politisches Instrument ist und das Irische Refugee Documentation Centre am 26.03.2013 eine Übersicht zur Reflexverfolgung in Syrien veröffentlicht hat, worin mit Verweis auf eine Reihe von verlässlichen Quellen von zahlreichen Fällen berichtet wird, in denen Personen aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit Opfer zielgerichteter Verfolgung wurden. Demnach setzten die syrischen Behörden Oppositionelle bereits vor dem Beginn der Unruhen im Jahr 2011 regelmäßig unter Druck, in dem sie ihre Familienangehörigen Repressionen und Schikanen aussetzten. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs habe diese Strategie zusätzlich an Gewicht gewonnen. Im selben Bericht wird von Familienangehörigen berichtet, die von den Sicherheitskräften verhaftet und gefoltert wurden, um Oppositionelle zu erpressen oder zur Aufgabe zu zwingen. Dieses Vorgehen würde sowohl durch das Assad-Regime als auch durch andere Konfliktparteien weiter angewandt werden, wie aus verschiedenen aktuellen Publikationen hervorgehe, beispielsweise im Bericht des UNHCR vom November 2015. Auch Human Rights Watch weist in einem Bericht vom 29.01.2015 daraufhin, dass die syrischen Sicherheitskräfte Familienangehörige von gesuchten Personen festnähmen, um diese dazu zu bewegen, sich den Behörden auszuliefern. Ferner wird auf Berichte des Finnish Immigration Service (FIS) und von Amnesty International (Bericht vom 05.11.2015) verwiesen. In dem zuletzt genannten Dokument sind konkrete Beispiele von Familienmitgliedern von Regimegegnern oder Deserteuren aufgeführt, die inhaftiert und in Haft vermutlich gestorben sind. Im Bericht des Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 wird berichtet, welche Konsequenzen eine Desertion oder Wehrdienstverweigerung auf Familienangehörige haben kann. Demnach würden oftmals männliche, teilweise aber auch weibliche Familienmitglieder inhaftiert, bis der Deserteur zum Dienst zurückkehrt. Zudem werde durch Plünderung des Besitzes oder Ausschluss aus der Gemeinschaft massiver Druck auf die Familie ausgeübt, damit sie den Aufenthaltsort des Flüchtigen bekannt gibt. Männliche Verwandte werden dabei teilweise anstelle des Deserteurs in den Militär- oder Reservedienst einberufen. Im Bericht des Finnish Immigration Service heißt es weiter, dass laut einem Europäischen Diplomat nicht sicher ist, welches die Konsequenzen für Familienangehörige eines Deserteurs sein könnten. Schließlich heißt es in einem Bericht des Danish Immigration Service von September 2015, das nach verschiedenen Quellen eine Wehrdienstentziehung oder Desertion für Familienangehörige keinerlei Konsequenzen haben würden. Die Militärpolizei könnte das Wohnhaus des Betreffenden aufsuchen und Fragen über seinen aktuellen Aufenthaltsort stellen. Rami Sweid, ein Journalist aus Aleppo, berichtete, das in sehr wenigen Fällen ein Familienmitglied, beispielsweise der Bruder eines Wehrdienstflüchtigen, möglicherweise für ein paar Tage inhaftiert und geschlagen werden könnte, damit er den aktuellen Aufenthaltsort des Flüchtigen preisgebe. Möglicherweise werde die Familie auch gezwungen, eine Lösegeldsumme für den Abwesenden zu entrichten.

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubhaft geschildert, wie er wegen seines desertierten Sohnes befragt wurde. Da er wahrheitswidrig behauptet hat, sein Sohn sei zu seiner Einheit zurückgekehrt, wird dies nach Bekanntwerden der Fahnenflucht seines Sohnes gegen ihn sprechen. In Zusammenhang mit der Tatsache, dass der Kläger - wie oben ausgeführt - als Staatsbediensteter unerlaubt seinen Arbeitsplatz verlassen hat, ist davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer eventuellen Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG drohen würden. [...]