VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 12.07.2018 - 5 V 837/18 - asyl.net: M26388
https://www.asyl.net/rsdb/M26388
Leitsatz:

Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig:

Schutzberechtigten droht in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK (junger alleinstehender Mann).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Griechenland, Drittstaatenregelung, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Garantieerklärung, Existenzminimum,
Normen: Art. 3 EMRK, § 60 Abs. 5 AufenthG, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]
d) Dieser Feststellung kann nicht gefolgt werden. Eine aktuelle Gesamtwürdigung der zu Griechenland vorliegenden Berichte und Stellungnahmen vor allem von Nichtregierungsorganisationen belegt eine Verletzung von Art. 3 EMRK i.V.m § 60 Abs. 5 AufenthG (zur Prüfpflicht des Gerichts siehe BVerfG, B. v. 08.05.2017 - 2 BvR 157.17, juris, und v. 21.04.2016 - 2 BvR 273.16, juris). Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Reichweite des Art. 3 EMRK im Asyl- und Flüchtlingsrecht kommt dabei - ebenso wie derjenigen des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 4 GR-Charta - über den jeweils entschiedenen Fall hinaus eine Orientierungs- und Leitfunktion zu (vgl. BVerfG, B. v. 18.08.2013 - 2 BvR 1380/08, juris). Danach können sich auch die - staatlich verantworteten - allgemeinen Lebensverhältnisse als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt allerdings ein Mindestmaß an Schwere voraus, für das das Bestehen einiger Mängel nicht reicht (vgl. EGMR, B. v. 02.04.2013 - 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande -, ZAR 2013, S. 336). Diese Norm verpflichtet nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, B. v. 02.04.2013, a.a.O. und U. v. 21.01.2011 - 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland -, NVwZ 2011, 413). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, Beschluss vom 02.04.2013, a.a.O.). Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und - trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte- behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, U. v. 21.01.2011, a.a.O.). Bei der Prüfung einer Überstellung kommt es nicht nur auf die generellen Verhältnisse im Zielstaat an, sondern auch auf die individuellen Umstände des konkret Betroffenen. Wenn etwa mit Blick auf bestimmte Erkrankungen ernstliche Zweifel über die Folgen einer Abschiebung bestehen, müssen individuelle und ausreichende Zusicherungen des Zielstaates eingeholt werden. Jedenfalls ist es erforderlich, dass die dort gewährleisteten Rechte praktisch sowie effektiv und nicht nur theoretisch und illusorisch zur Verfügung stehen (zum Vorstehenden EGMR, U. v. 13.12.2016 -. 41738/10, Paposhvili/Belgien -, hudoc m.w.N.). Denn Asylbewerber stellen wegen ihrer traumatischen Fluchterlebnisse eine besonders verletzliche und hilfsbedürftige Gruppe dar (vgl. EGMR, U. v. 30.06.2015 - 39350/13, A.S./Switzerland -, hudoc, v. 04.11.2014 - 29217/12, Tarakhel/Switzerland -, hudoc und v. 21.01.2011 - 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland -, NvWZ 2011, 413).

e) Gemessen an diesem Maßstab ist für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK festzustellen (vgl. VG Aachen, B. v. 03.07.2017 - 4 L 782.17.A, juris; VG Stuttgart, B. v..09.02.2017 - A 7 K 556.17, juris; VG Berlin, U. v. 30.11.2017 - 23 K 463.17 A, juris; VG Trier, B. v. 13.12.2017 - 7 L 14132/17.TR, juris: VG Berlin, B. v. 22.12.2017 - 23 L 896.17 A. juris). Die Auswertung der hinreichend verlässlichen und auch ihrem Umfang nach zureichenden Erkenntnislage ergibt, dass anerkannte Schutzberechtigte, die in Griechenland vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind, behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber stehen, obwohl sie sich dort in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse (Wohnraum, Nahrungsmittel und Zugang zu sanitären Einrichtungen) ist nicht einmal für eine Übergangszeit gewährleistet. Den anerkannten Schutzberechtigten droht vielmehr akute Obdachlosigkeit und Verelendung. Sie haben keine reelle Chance, sich in Griechenland ein Existenzminimum aufzubauen. zumal Rückkehrer mangels nachzuweisenden einjährigen legalen Aufenthalts keinen Zugang zum griechischen sozialen Solidaritätseinkommen haben (vgl VG Berlin B v 22.12.2017 - 23 L 896.17.A - juris).

aa) Zwar haben anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland grundsätzlich den gleichen Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie zu Sozialleistungen wie griechische Bürger (Asylum Information Database Country Report: Greece, 31.12.2017, - im Folgenden: AIDA -, S. 176). Allerdings stehen ihnen diese Rechte aufgrund der schlechten wirtschaftlichen und staatlich-administrativen Situation des Landes und der Untätigkeit der griechischen Behörden nicht effektiv, sondern nur theoretisch und illusorisch zur Verfügung. Anerkannte Schutzberechtigte sind in der Vielzahl von Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen. Gerade Rückkehrer aus anderen Mitgliedstaaten leben ohne jegliche staatliche Unterstützung unter prekären Bedingungen oftmals in Obdachlosigkeit. Faktisch haben sie keinen Zugriff auf die vom griechischen Staat auf dem Papier gewährleisteten Sozialleistungen, da sie diese mangels Erteilung der erforderlichen Dokumente durch die griechischen Behörden, wie z.B. einer Steuernummer, nicht beantragen können (vgl. AIDA, S. 178). Sogar in einem offiziellen Informationsdokument der griechischen Asylbehörde wird darauf hingewiesen, dass der Staat anerkannten Schutzberechtigten weder eine Unterkunft zur Verfügung stellen noch den Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt garantieren kann (vgl. Pro Asyl, Stellungnahme - Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland Lebensbedingungen, 23.06.2017 - im Folgenden: Pro Asyl -, S. 3; vgl. auch: AIDA, S. 176).

Aktuell stehen für Asylbewerber im Rahmen eines von der EU finanzierten Unterkunftsprogramms 20.275 Plätze in Wohnungen zur Verfügung, die v.a. vom UNHCR insbesondere für vulnerable Gruppen angemietet wurden. 2.126 dieser Plätze sind an anerkannte Schutzberechtigte vergeben, für die derzeit eine Übergangsphase von maximal sechs Monaten gilt. Inoffiziell geht die Europäische Kommission von einer Verlängerung der Unterbringung für anerkannte Schutzberechtigte aus, solange diese ersichtlich keinen ausreichenden Zugriff auf privat oder staatlich organisierten Wohnraum haben (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Köln vom 07.02.2018). Da die vom UNHCR bereitgestellten Unterkünfte jedoch v.a. an vulnerable Personen vergeben werden, können nicht vulnerable Personen bei diesem Programm nicht berücksichtigt werden (vgl. AIDA, S. 177). Nach der Stellungnahme von Pro Asyl werden in der Praxis keine staatlichen Unterkünfte für international Schutzberechtigte bereitgestellt (nicht einmal für besonders schutzbedürftige Personen), und auch keine Mietzuschüsse, Kredite oder andere Formen von finanzieller Unterstützung (Pro Asyl, S. 14). Auch AIDA bestätigt, dass es in Griechenland grundsätzlich begrenzte Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose gibt und keine Unterkünfte, die für anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte vorgesehen sind. Es gebe auch keine Regelung zur finanziellen Unterstützung bei den Lebenshaltungskosten (AIDA, S. 177). Zwar wurde im Mai 2017 eine staatliche Sozialleistung zur Wohnungsunterstützung gesetzlich geregelt, eine tatsächliche Einführung soll jedoch je nach Haushaltslage erst im Zeitraum 2019 bis 2023 erfolgen. Zum Verbleib anerkannter Schutzberechtigter in Aufnahmezentren, die für Schutzsuchende gedacht sind. existiert keine eingespielte Verwaltungspraxis. Anfragen werden individuell seitens der Manager der Zentren an das Migrationsministerium gerichtet (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Köln vom 07.02.2018). Auch die über Nichtregierungsorganisationen vermittelte Hilfe, wie z.B. die Möglichkeit, über Airbnb für wenige Nächte in nicht an Touristen vermieteten Ferienunterkünften unterzukommen (vgl. https:/iwww.solidaritynow.org/en/airbnb/, zuletzt abgerufen: 07.05.2018), bleibt vereinzelt und ist nur vorübergehend, so dass derartige Angebote nicht die Möglichkeit einer amtlichen Anmeldung eröffnen. Das private Anmieten von Wohnraum wird anerkannten Schutzberechtigten durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, hilfsweise an Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich auch durch Vorurteile erschwert. Im Falle von Obdachlosigkeit müssen Flüchtlinge mit bedürftigen Griechen um die geringen Hilfsmöglichkeiten lokaler Behörden konkurrieren, wobei sie oftmals Diskriminierungen ausgesetzt sind (vgl. zum Vorstehenden: VG Berlin, B. v. 22.12.2017 - 23 L 896.17 A, juris). Aufgrund der Knappheit der Plätze ist es für anerkannte Schutzberechtigte in der Praxis nahezu unmöglich, in einer Obdachlosenunterkunft unterzukommen. Sogar die Notunterkünfte des Roten Kreuzes setzen einen dauerhaften Aufenthalt in Griechenland für mehrere Jahre voraus. Eine Vielzahl anerkannter Schutzberechtigter ist obdachlos und lebt auf der Straße oder unter schlechten Bedingungen in verlassenen Häusern (vgl. Pro Asyl, S. 16 f.). Auch Rückkehrer aus anderen EU-Ländern werden vom Staat nicht mit einer Unterkunft oder Bargeld versorgt. Es sind Fälle bekannt, in denen Rückkehrer ohne Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und sanitären Einrichtungen auf der Straße übernachten mussten. Sie erhielten nach ihrer Ankunft am Flughafen keinerlei Unterstützung oder Information (vgl. Pro Asyl. S. 15. 18).

bb) Die Chancen für anerkannte Schutzberechtigte, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und damit hinsichtlich Obdach, Nahrung und Zugang zu sanitären Einrichtungen nicht auf staatliche Unterstützungen angewiesen zu sein, sind nach den aktuellen Erkenntnismitteln als gering einzuschätzen. Anerkannte Schutzsuchende haben zwar einen gesetzlich verankerten unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt. Aufgrund der wirtschaftlich kritischen Lage in Griechenland besteht allerdings allgemein eine hohe Arbeitslosigkeit. Der Zugang zu beruflichen Fortbildungsmaßnahmen ist eingeschränkt, solange die Flüchtlinge über keine Nachweise bezüglich ihres Bildungsniveaus verfügen. Es ist daher auch für anerkannte Flüchtlinge oft schwer, das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt tatsächlich in Anspruch zu nehmen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Stand Mai 2017, S. 7, AIDA S. 178). Darüber hinaus begegnen anerkannte Schutzberechtigte Schwierigkeiten bei der Ausstellung einer Steuernummer, die sowohl den Zugang zum Arbeitsmarkt als auch die Registrierung beim Arbeitsamt behindern (AIDA, S. 178).

cc) Schließlich lässt auch die Empfehlung der Kommission vom 08.12.2016 "an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013" keine Rückschlüsse auf den Zugang rückkehrender anerkannter Schutzberechtigter zu Obdach, Nahrung und sanitären Einrichtungen zu. Denn diese legt nur Verbesserungen - auch der humanitären Standards - für die Dauer des griechischen Asylverfahrens dar, bezieht sich also nicht auf die hier relevante Problematik der anerkannt Schutzberechtigten. Insbesondere ist nicht die Rede davon, dass erweiterte - nach wie vor nicht ausreichende - Unterbringungskapazitäten für Asylbewerber auch rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten zur Verfügung stünden. Im Übrigen empfiehlt die Kommission Rückführungen zur Durchführung von Asylverfahren ohnehin nur für den Fall, dass jeweils im Einzelfall aufgrund einer Zusicherung der griechischen Behörde feststeht, dass der Zurückzuführende in einer Flüchtlingsunterkunft unterkommen kann (vgl. Ziff. 10 der empfohlenen Maßnahmen zur Verbesserung des griechischen Asylsystems) (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 08. Mai 2017, a.a.O., Rn. 22, juris).

Eine solche Zusicherung der griechischen Behörden, aufgrund derer die Unterbringung des Antragstellers und sein Zugang zu Nahrung und sanitären Einrichtungen im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland sichergestellt wäre (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017, a.a.O., Rn. 16), hat die Antragsgegnerin vorliegend nicht eingeholt.

Infolgedessen gelangt das erkennende Gericht zu der Überzeugung, dass dem Antragsteller im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit droht oder er allenfalls in einem verlassenen Gebäude ohne Zugang zu Nahrung und sanitären Einrichtungen unterkommt. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller ausreichende Mittel hätte, um zumindest in der Anfangszeit entgegen aller Widrigkeiten seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und eine private Wohnung anzumieten. [...]