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VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 07.06.2018 - 8 A 367/17 - asyl.net: M26369
https://www.asyl.net/rsdb/M26369
Leitsatz:

Abkömmlinge eines äthiopischen Elternteils besitzen grundsätzlich auch die äthiopische Staatsbürgerschaft.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Äthiopien, Eritrea, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, eritreische Abstammung, äthiopische Abstammung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

16 Nach Art. 1 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22.07.1930 (äthiopisches Staatsangehörigkeitsgesetz; zitiert nach Bergmann/Ferid/Heinrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Äthiopien, Stand 1.11.2004, S. 18 Fn. 2) ist äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wurde. Diese Voraussetzungen des Erwerbs der äthiopischen Staatsangehörigkeit erfüllt der Kläger, da seine Mutter nach seinem Vortrag zum Zeitpunkt seiner Geburt die äthiopische Staatsangehörigkeit besaß. Diese war jedenfalls im Jahr 1988 (noch) äthiopische Staatsangehörige, da Eritrea im Jahr 1962 von Äthiopien unter Kaiser Haile Selassie annektiert wurde und erst nach einem 30-jährigen Unabhängigkeitskampf am 24.05.1993 die formelle und völkerrechtlich anerkannte Unabhängigkeit erlangte (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea. (Stand: November 2017), S. 7; vgl. auch SFH, Äthiopien: Gemischt eritreisch-äthiopische Herkunft, S. 1).

17 Die einmal erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit hat der Kläger nicht gemäß Art. 11 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes verloren. Diese Regelung sieht unter der Überschrift "Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit" vor, dass ein äthiopischer Staatsangehöriger die äthiopische Staatsangehörigkeit u.a. verliert, wenn er eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt. Der Kläger hat indes zu keinem Zeitpunkt eine andere Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 11 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes "erworben".

18 Unter "Erwerb" verstand das äthiopische Staatsangehörigkeitsgesetz zur Überzeugung des Gerichts einen freiwilligen Akt, der jedenfalls eine auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit abzielende Handlung oder Entscheidung erforderte. Für eine dahingehende Auslegung spricht der Umstand, dass die äthiopischen Behörden bei der Staatsangehörigkeitsprüfung neben der Abstammung von Personen voluntativen Elementen wie z.B. die Entscheidung, an dem eritreischen Unabhängigkeitsreferendum teilzunehmen oder an den eritreischen Staat Zahlungen zu leisten, mit einbezogen haben (vgl. OVG LSA, Urteil vom 19.04.2002, 2 A 203/98;; Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 22.01.2015, 3 K 536/14; VG Arnsberg, Urteil vom 24.10.2014, 12 K 1874/13.A; VG Düsseldorf, Urteil vom 23.05.2013, 6 K 3576/13.A; alle juris). Zudem hätte eine andere Auslegung zur Folge, dass der Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit allein durch den Rechtsakt eines fremden Staates ohne Entscheidungsmöglichkeit der betroffenen Personen eintreten könnte. Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeiten im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht ist nicht davon auszugehen, dass diese Folge vom äthiopischen Gesetzgeber gewollt war (vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 23.05.2013, 6 K 3576/13.A; juris).

19 Zudem ergibt sich aus der Verwaltungspraxis dass die äthiopischen Behörden jedenfalls bis Mai 1998 stillschweigend die doppelte Staatsbürgerschaft für in Äthiopien lebende Personen eritreischer Herkunft tolerierten (vgl. Schröder, Sachverständigen-gutachten für das VG Kassel zur Echtheit des von der Klägerin vorgelegten ID-Ausweises und der Staatsangehörigkeit der Kläger vom 20.06.2017, S. 13 Rn. 41 sowie Stellungnahme vom 22.03.2011, Rn. 12 ff.; SFH, a.a.O, S. 1), was auf die Möglichkeit hindeutet, eine fremde Staatsangehörigkeit ohne automatischen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit zu erwerben. Es ist auch nicht festzustellen, dass diese Rechtsanwendungspraxis im Widerspruch zum Staatsangehörigkeitsgesetz stand, mag hierdurch auch eine Situation entstanden sein, die im Interesse der Beteiligten dringend einer eindeutigen rechtlichen Klärung bedurfte (vgl. hierzu Schröder, Stellungnahme vom 22.03.2011, Rn. 9; a.A. VG B-Stadt, Urteil vom 23.01.2018, 3 A 6312/16; juris).

20 Ebenfalls gegen einen automatischen, nicht auf einer freiwilligen Handlung fußenden Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.07.1930 spricht, dass eine entsprechende Kollisionsregel erst durch das am 23.12.2003 in Kraft getretenen novellierte Staatsangehörigkeitsgesetz Äthiopiens (zitiert nach Bergmann/Ferid/Heinrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Äthiopien, Stand 01.11.2004, S. 17) geschaffen wurde. Nach dem dortigen Art. 20 Abs. 2 wird ein freiwilliger Verzicht auf die äthiopische Staatsangehörigkeit fingiert, wenn der Betroffene nicht innerhalb eines Jahres nach Erreichen der Volljährigkeit auf die fremde Staatsangehörigkeit verzichtet. Diese Regelung trägt auch dem Umstand Rechnung, dass nach dem damaligen Staatsangehörigkeitsrecht Unklarheit über den Verlusttatbestand des Art. 11 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes bestand, mag die im Übrigen auch der nachträglichen Legitimierung der Deportationspraxis der äthiopischen Behörden gedient haben (vgl. zu letzterem Schröder, Stellungnahme vom 22.03.2011, Rn. 79).

21 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze zur Anwendung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts ist ein Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit des Klägers nicht durch einen möglichen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit mit Inkrafttreten der Proklamation Nr. 21/1992 über die eritreische Staatsangehörigkeit vom 06.04.1992 (eritreische Staatsangehörigkeitsverordnung; zitiert nach Bergmann/Ferid/Heinrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Eritrea, Stand 23.08.2004, S. 18 Fn. 2) eingetreten. Zwar sieht Art. 2 Abs. 1 der eritreischen Staatsangehörigkeitsverordnung vor, dass derjenige, der in Eritrea oder im Ausland als Kind eines Vaters oder einer Mutter eritreischer Abstammung geboren wird, eritreischer Staatsangehöriger durch Geburt ist. Doch selbst wenn der Vater des Klägers eritreischer Staatsangehöriger gewesen sein sollte und der Kläger damit (auch) die eritreische Staatsangehörigkeit erworben hätte, bedeutet dies nach den obigen Ausführungen nicht, dass der Kläger hierdurch zugleich die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hat. Denn er selbst hat keine aktive Erwerbshandlung der eritreischen Staatsbürgerschaft vorgetragen. Ob seine Eltern am Unabhängigkeitsreferendum teilgenommen haben, konnte der Kläger ebenfalls nicht sagen.

22 Der Kläger hat auch nach Ausbruch des eritreisch-äthiopischen Krieges im Mai 1998 (vgl. hierzu AA a.a.O., S. 7) die äthiopische Staatsangehörigkeit nicht verloren. Zwar wurden ab diesem Zeitpunkt viele Äthiopier eritreischer Abstammung als eritreische Staatsbürger eingestuft. Auch ihre Kinder wurden als eritreische Staatsbürger klassifiziert, selbst wenn diese die eritreische Staatsbürgerschaft nicht wahrnehmen konnten oder wahrgenommen haben (vgl. SFH a.a.O., S. 2). Allerdings ist die Anwendung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, Art. 77 Abs. 1 S. 1 AsylG, auch im Lichte der durch die äthiopische Regierung erlassene Direktive vom 19.01.2004 (Directive Issued to Determine the Residence Status of Eritrean Nationals Residing in Ethiopia, January 2004, verfügbar unter www.refworld.org/docid/48abd56c0.html) zu betrachten. Ziffer 2 der Direktive beschreibt deren Zielsetzung und Anwendungsbereich. Hiernach soll die Direktive allen Personen eritreischer Herkunft, die in Äthiopien wohnhaft waren als Eritrea ein unabhängiger Staat wurde und die ihren ständigen Aufenthalt bis zur Verabschiedung der Direktive in Äthiopien hatten, bestätigen, ob sie die eritreische Staatsangehörigkeit erhalten haben und ihren Aufenthaltsstatus in Äthiopien bestimmen ("The objective of this Directive is to provide the means to any person of Eritrean origin who was a resident in Ethiopia when Eritrea became an independent State and has continued maintaining permanent residence in Ethiopia up until this Directive is issued to confirm whether he or she has acquired Eritrean nationality, and to determine his or her status of residence in Ethiopia.").

23 Nach Ziffer 4.2. der Direktive wird eine Person eritreischer Abstammung, die sich nicht für die eritreische Staatsangehörigkeit entschieden hat, so behandelt, als ob sie seine oder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit beibehalten habe. Seine oder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit soll garantiert werden ("A person of Eritrean origin who has not opted for Eritrean nationality shall be deemed as having decided to maintain his or her Ethiopian nationality and his or her Ethiopian nationality shall be guaranteed"). Zwar trifft die Direktive damit keine eigenständigen Festlegungen zur Bestimmung der Staatsangehörigkeit (vgl. SFH a.a.O., S. 6). Für eine Auslegung der in Äthiopien bei der Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts maßgeblichen Praxis kann sie dennoch Bedeutung entfalten (so tendenziell scheinbar auch VG B-Stadt, Urteil vom 23.01.2018, 3 A 6312/16; juris).

24 Unter Zugrundelegung der Regelungen der Direktive tritt erneut das bereits oben herausgearbeitete voluntative Element innerhalb des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts hervor. Auch hier gilt, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt eine Entscheidung für die eritreische Staatsangehörigkeit getroffen hat, keine eritreische ID-Karte beantragt hat und auch sonst keine Beziehung zu Eritrea beschrieben hat.

25 Der Kläger hat seine äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht durch Art. 20 Abs. 2 das am 23.12.2003 in Kraft getretenen novellierte Staatsangehörigkeitsgesetz Äthiopiens verloren, weil er nicht gegenüber den Behörden binnen eines Jahres nach Erreichen der Volljährigkeit den Wunsch erklärt hat, diese beizubehalten. Denn in Art. 26 des novellierten äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes ist festgelegt, dass derjenige, der bis zum Inkrafttreten dieser Proklamation gemäß dem bisherigen Staatsangehörigkeitsgesetz die äthiopische Staatsangehörigkeit innehatte, auch weiterhin äthiopischer Staatsangehöriger bleibt. Die Verlusttatbestände des Art. 20 des novellierten Staatsangehörigkeitsgesetzes finden damit auf den Kläger keine Anwendung. [...]