OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 08.02.2018 - 13 LB 43/17 - asyl.net: M26366
https://www.asyl.net/rsdb/M26366
Leitsatz:

1. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG kann nur volljährigen Ausländern erteilt werden.

2. Ein tatsächlicher Schulbesuch im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AufenthG kann nur dann angenommen werden, wenn das schulpflichtige Kind während eines Schuljahres allenfalls an einzelnen, wenigen Tagen unentschuldigt dem Schulunterricht ferngeblieben ist.

3. Besteht mangels Vorliegens der vom Gesetzgeber in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG geforderten Integrationsleistungen die Regelvermutung der nachhaltigen Integration des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht, kann der Ausländer in Ausnahmefällen gleichwohl nachweisen, dass er sich im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Hierzu muss der Ausländer besondere Integrationsleistungen erbracht haben, die von vergleichbarem Gewicht wie die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG genannten Integrationsleistungen sind. Erforderlich ist eine Gesamtschau aller Umstände des konkreten Einzelfalls.

4. Ein erfolgreicher Schulbesuch im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG liegt vor, wenn zu erwarten ist, dass der Schüler die Schule mindestens mit einem Hauptschulabschluss beenden wird.

5. Die nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG erforderliche Erwartung, dass der Ausländer sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, erfordert eine positive Integrationsprognose.

6. Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, einem Ausländer, der dem Anwendungsbereich der §§ 25a, 25b AufenthG unterfällt, der aber die in diesen Bestimmungen formulierten Voraussetzungen für eine aufenthaltsrechts­begründende Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht erfüllt, unter Rückgriff auf das in Art. 8 EMRK ganz allgemein verbürgte Recht auf Achtung des Privatlebens gleichwohl ein Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu gewähren.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Integration, tatsächlicher Schulbesuch, nachhaltige Integration, erfolgreicher Schulbesuch, Schutz von Ehe und Familie, Europäische Menschenrechtskonvention, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, ausreichende Sprachkenntnisse,
Normen: AufenthG § 25b, AufenthG § 25a, EMRK Art. 8, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

43 Mit Blick auf die Erteilungsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 AufenthG, die Möglichkeit eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts für Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder nach § 25b Abs. 4 AufenthG und den Anwendungsbereich der Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden nach § 25a Abs. 1 AufenthG kann die Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG nur volljährigen Ausländern erteilt werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 17.8.2016 - 18 B 696/16 -, juris Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, AufenthG, § 25b Rn. 4 (Stand: Oktober 2015)). [...]

48 [...] Der geforderte Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs schulpflichtiger Kinder stellt ein bildungsbezogenes Integrationskriterium dar. Gerade die nachhaltige Erfüllung der Schulpflicht ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgversprechende sprachliche und soziale Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse. Dementsprechend muss der Schulbesuch für den gesamten Zeitraum zwischen Beginn und Ende des schulpflichtigen Alters durch Zeugnisvorlage oder Bescheinigungen der Schulen nachgewiesen werden. Ein tatsächlicher Schulbesuch kann danach nur dann angenommen werden, wenn das schulpflichtige Kind während eines Schuljahres allenfalls an einzelnen, wenigen Tagen unentschuldigt dem Schulunterricht ferngeblieben ist (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 3.2.2106 - 8 ME 218/15 -, V.n.b., und zur inhaltsgleichen Tatbestandsvoraussetzung in der Vorgängerregelung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG: Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 3.2.2010 - 8 PA 17/10 -, juris Rn. 4 f. m.w.N.). [...]

51 [...] Die Klägerin zu 1. erfüllt derzeit aber die Voraussetzung nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG nicht.

52 Nach dieser Bestimmung muss der Ausländer über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügen. Diese Grundkenntnisse können durch den erfolgreich bestandenen bundeseinheitlichen Test "Leben in Deutschland" zum Orientierungskurs nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 der Integrationskursverordnung erbracht werden. Der Nachweis der erforderlichen Grundkenntnisse gilt als erbracht, wenn der Ausländer über einen Abschluss einer deutschen Hauptschule oder einen vergleichbaren oder höheren Schulabschluss einer deutschen allgemeinbildenden Schule, eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung oder ein Studium verfügt (vgl. Allgemeine Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zur Einfügung des § 25b Aufenthaltsgesetz, Teil II, Abschnitt D). [...]

55 Erfüllt ein Ausländer die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG genannten Voraussetzungen - oder ist die vorübergehende Nichterfüllung der Voraussetzung nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG gemäß § 25b Abs. 1 Satz 3 AufenthG unschädlich oder ist vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 4 AufenthG gemäß § 25b Abs. 3 AufenthG abzusehen -, ist "regelmäßig" davon auszugehen, dass sich der Ausländer im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat.

56 Tritt dieser Regelvermutung nicht ein, können die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG in Ausnahmefällen gleichwohl erfüllt sein, wenn der Ausländer nachweist, dass er sich trotz Nichterfüllung der vom Gesetzgeber in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG geforderten Integrationsleistungen im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Hierzu muss der Ausländer besondere Integrationsleistungen erbracht haben, die von vergleichbarem Gewicht wie die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 AufenthG genannten Integrationsleistungen sind. Dies kann etwa ein herausgehobenes soziales Engagement sein. Erforderlich ist eine Gesamtschau aller Umstände des konkreten Einzelfalls (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 42; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 7.12.2016 - 2 L 18/15 -, juris Rn. 32; Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.8.2016 - 3 Bf 153/13 -, juris Rn. 50 und 62; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 21.7.2015 - 18 B 486/14 -, juris Rn. 8 ff.;
Hailbronner, a.a.O., § 25b Rn. 6 ff. (Stand: Oktober 2015)). [...]

63 Aufgrund der Anknüpfung an jugendliche und heranwachsende Ausländer kann die Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG mittlerweile schon nach Vollendung des 14. Lebensjahres erteilt werden (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 3.3.2017 - 8 LA 178/16 -, V.n.b., Umdruck S. 5; Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 42). Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG in der durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften (BGBl. I 2011, 1266) mit Wirkung vom 1. Juli 2011 neu eingefügten Fassung konnte die Aufenthaltserlaubnis hingegen nur erteilt werden, wenn der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Vollendung des 15. und vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt worden war. Nach dieser seinerzeit geltenden Fassung kam die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG mithin erst ab einem Mindestalter von fünfzehn Jahren in Betracht (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 6.10.2015 - 2 B 166/15 -, juris Rn. 8; GK-AufenthG, § 25a Rn. 18 (Stand: August 2012)).

64 Ein erfolgreicher Schulbesuch im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG liegt vor, wenn zu erwarten ist, dass der Schüler die Schule mindestens mit einem Hauptschulabschluss beenden wird (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Vorläufige Niedersächsische Verwaltungsvorschrift zur Anwendung des § 25a des Aufenthaltsgesetzes; Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an gut integrierte geduldete ausländische Jugendliche und Heranwachsende v. 27.6.2011, dort Nr. 2.4).

65 Die nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG erforderliche Erwartung, dass der Ausländer sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, erfordert eine positive Integrationsprognose. Diese kann gestellt werden, wenn die begründete Erwartung besteht, dass der ausländische Jugendliche oder Heranwachsende sich in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 19.3.2012, a.a.O., Rn. 74; Hailbronner, a.a.O., § 25a Rn. 11 (Stand: Oktober 2015); Welte, Neues humanitäres Aufenthaltsrecht für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende, SächsVBl. 2011, 249, 252). [...]

81 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts in der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung ist den Klägern eine Ausreise aus dem Bundesgebiet mit Blick auf ihr nach Art. 8 EMRK geschütztes Privatleben nicht rechtlich unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.

82 a. Dem steht nach der Rechtsprechung des 8. und des 11. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschl.12.3.2013 - 8 LA 13/13 -, juris Rn. 13; Beschl. v. 31.10.2012 - 11 ME 275/12 -, juris Rn. 6), der sich der erkennende Senat anschließt, grundsätzlich schon die Systematik des Aufenthaltsgesetzes entgegen (a.A. OVG Bremen, Urt. v. 28.6.2011 - 1 A 141/11 -, juris Rn. 44; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2010 - 11 S 2359/10 -, juris Rn. 25).

83 Der Gesetzgeber hat sich der Situation der im Bundesgebiet gut integrierten jugendlichen und heranwachsenden Ausländer und der nachhaltig integrierten volljährigen Ausländer ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ausdrücklich angenommen und zunächst in den §§ 104a, 104b AufenthG und nachfolgend in §§ 25a, 25b AufenthG Bedingungen für die Gewährung eines dauerhaften Aufenthaltsrechts aus humanitären Gründen formuliert. Mit der gesetzlichen Altfallregelung des § 104a AufenthG sollte dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und hier integrierten Ausländer nach einer dauerhaften Perspektive in Deutschland Rechnung getragen und diejenigen begünstigt werden, die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind und sich rechtstreu verhalten haben (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, BTDrs. 16/5065, S. 201 f.). Geduldete, die ihren Lebensunterhalt noch nicht eigenständig durch Erwerbstätigkeit sichern, jedoch die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen, konnten eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten. Diese gilt nach § 104a Abs. 1 Satz 3 AufenthG als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes und schließt eine Aufenthaltsverfestigung aus. Da eines der Ziele dieser Altfallregelung darin bestand, eine dauerhafte Zuwanderung in die Sozialsysteme zu vermeiden, setzte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. die Erteilung über den 31. Dezember 2009 hinaus voraus, dass im zurückliegenden Zeitraum des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis der Lebensunterhalt überwiegend eigenständig durch Erwerbstätigkeit gesichert gewesen ist. Die so eröffneten Möglichkeiten der Bewährung sind durch die Erlasse des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration vom 11. Dezember 2009 (Bleiberechtsregelung 2009) und vom 19. Dezember 2011 (Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen nach der Bleiberechtsreglung 2009) nochmals erweitert worden. Darüber hinaus konnten nach § 104b AufenthG in die hiesigen Lebensverhältnisse integrierte Kinder geduldeter Ausländer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erlangen.

84 Der nachfolgende stichtagsunabhängige § 25a AufenthG gewährt Jugendlichen und Heranwachsenden ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, wenn diese aufgrund ihrer bisherigen Integrationsleistungen die Gewähr dafür bieten, dass sie sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen werden. Ziel dieser gesetzlichen Regelungen ist es, die humanitären Probleme insbesondere in Deutschland aufgewachsener ausländischer Kinder zu lösen und diesen eigenständige Perspektiven für ein integrationsabhängiges Aufenthaltsrecht zu schaffen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, a.a.O., S. 204; Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften, BT-Drs. 17/4401, S. 16). Die vom Gesetzgeber formulierten konkreten Anforderungen an eine hinreichende Integration der jugendlichen und heranwachsenden Ausländer in die hiesigen Lebensverhältnisse ergeben sich aus § 25a Abs. 1 AufenthG.

85 § 25b AufenthG gewährt nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integrierten Ausländern stichtagsunabhängig ein Aufenthaltsrecht. Ziel des Gesetzgebers war es, nachhaltige Integrationsleistungen, die trotz eines fehlenden rechtmäßigen Aufenthaltes erbracht wurden, durch Erteilung eines gesicherten Aufenthaltsstatus zu honorieren (so ausdrücklich Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 23 und Bundesminister de Maizière im Bundestagsplenum am 6.3.2015, PlProt. 18/92, S. 8778). Die erforderlichen Integrationsleistungen hat der Gesetzgeber in § 25b Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 und 3 AufenthG konkret definiert.

86 Mit diesen ausdrücklich gesetzlich normierten Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen wegen der Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse ist es grundsätzlich unvereinbar, einem Ausländer, der dem Anwendungsbereich der §§ 25a, 25b AufenthG unterfällt, aber die in diesen Bestimmungen formulierten Voraussetzungen für eine aufenthaltsrechtsbegründende Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht erfüllt, unter Rückgriff auf das in Art. 8 EMRK ganz allgemein verbürgte Recht auf Achtung des Privatlebens gleichwohl ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Unabhängig davon erscheint es auch praktisch ausgeschlossen, dass ein Ausländer, dem eine bloße positive Integrationsprognose im Sinne des § 25a Abs. 1 AufenthG nicht gestellt werden kann oder der die abgesenkten Anforderungen an eine berufliche und wirtschaftliche Integration des § 25b Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt, als derart in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert anzusehen ist, dass ihm als sogenanntem faktischem Inländer ein Verlassen des Bundesgebiets nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 EMRK rechtlich unmöglich sein soll.

87 b. Im Übrigen ist den Klägern eine Ausreise aus dem Bundesgebiet aber auch unter Berücksichtigung des Schutzes ihres Privatlebens nach Art. 8 EMRK nicht rechtlich unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Denn jedenfalls ist ein mit der Beendigung des Aufenthalts verbundener Eingriff in das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Privatleben des Klägers nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt.

88 Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens und die davon umfassten persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt, ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, wenn er eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellt, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.2.2011 - 2 BvR 1392/10 -, NVwZ-RR 2011, 420, 421). Dies schließt es nicht aus, zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 EMRK ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben zu fordern, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann, und hierbei einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits die Möglichkeit zur Reintegration im Staat der Staatsangehörigkeit abzustellen (vgl. hierzu Niedersächsisches OVG, Urt. v. 19.3.2012, a.a.O., Rn. 43 m.w.N.). Die bei dieser Prüfung ermittelten konkreten individuellen Lebensverhältnisse und auch Lebensperspektiven des Ausländers sind schließlich im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach den Maßgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK in eine gewichtende Gesamtbewertung einzustellen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.2.2011, a.a.O.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 15.3.2012 - 7 A 11417/11 -, juris Rn. 29 und 34 f.; OVG Bremen, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 47 ff.). [...]