OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.05.2018 - 1 A 2/18.A - asyl.net: M26361
https://www.asyl.net/rsdb/M26361
Leitsatz:

Verlängerung der Klagefrist wegen unrichtiger Rechtsmittelbelehrung:

1. Die Formulierung "die Klage ist in deutscher Sprache abzufassen" ist  unrichtig, weil sie bei Rechtsunkundigen den Eindruck wecken kann, dass nur eine schriftliche Klageerhebung möglich ist. Daher verlängert sich die Klagefrist nach § 58 Abs. 2 VwGO auf ein Jahr.

2. Amazigh (Berber) unterliegen in Marokko keiner Gruppenverfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rechtsmittelbelehrung, Klagefrist, Gruppenverfolgung, Berber, Marokko, Fehlerhaftigkeit, Asylverfahren, Schriftform, Rechtsbehelfsbelehrung, Zulässigkeit, Frist, Rechtsmittelfrist, mündlich, schriftlich, Schriftform, Sprache, Deutsch, deutsche Sprache, Fristversäumnis, abgefasst, Abfassen, unrichtig, Unrichtigkeit, Zulässigkeit, Frist, Rechtsmittelfrist, Amazigh,
Normen: VwGO § 58 Abs. 2, AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 74 Abs. 1 2. Hs., AsylG § 36 Abs. 3 S. 1, VwGO § 58 Abs. 1, VwGO § 58, VwGO § 81, AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

51,52 Mit der Formulierung in der Rechtsbehelfsbelehrung des streitgegenständlichen Bescheides, dass die Klage "in deutscher Sprache abgefasst" (Hervorhebung nur hier) sein müsse, ist die Rechtsbehelfsbelehrung jedoch geeignet, bei dem Betroffenen den – im Widerspruch zum Gesetz stehenden – Eindruck zu erwecken, dass die Klage bei dem Verwaltungsgericht zum einen schriftlich eingereicht werden muss und zum anderen der Betroffene selbst für die Schriftform zu sorgen hat (so bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. April 2017 – A 9 S 333/17 – juris, Rn. 28 m.w.N.; a.A. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16. November 2017 – 1 LA 68/17 –, juris, Rn. 11 ff.).

53 Insoweit ist maßgeblich, welche Vorstellungen die Formulierung bei lebensnaher Betrachtungsweise bei dem Adressaten eines Asylbescheids auslösen kann (Empfängerhorizont). Dabei ist ungeachtet dessen, dass der Empfänger eines Asylbescheids in aller Regel der deutschen Sprache unkundig ist, wegen der Maßgeblichkeit der deutschen Fassung der Rechtsbehelfsbelehrung für den objektiven Empfängerhorizont das mögliche Verständnis einer der deutschen Sprache zwar mächtigen, jedoch rechtsunkundigen Person zugrundezulegen. 54,55 Gemessen daran kommt es nicht darauf an, ob das verwendete Verb "abfassen" in jedem Fall so zu verstehen ist, dass einer Erklärung eine schriftliche Form gegeben wird. Es reicht vielmehr aus, dass ein solches Verständnis beim Empfänger möglich ist. Dies ist jedoch hier unter Berücksichtigung des Eintrags im Duden und hier insbesondere aus den dort angegebenen Synonymen "anfertigen", "aufschreiben", "aufsetzen", "ausarbeiten", "formulieren", "niederschreiben", "schreiben", "verfassen", "zu Papier bringen" ohne Weiteres der Fall (vgl. www.duden.de/rechtschreibung/abfassen (abgerufen am 2. Mai 2018)).

56 Es besteht ferner die Möglichkeit, dass der Adressat den Eindruck gewinnt, er müsse selbst für diese Schriftform der Klage sorgen. Der Umstand, dass das Verb in der Rechtsbehelfsbelehrung passivisch in der Form des Partizips Perfekt bzw. Partizips 2 in Verbindung mit dem Hilfsverb "müssen" ("... muss ... abgefasst sein") verwendet wird, lässt seinem Wortlaut nach zwar offen, wer die Klage abzufassen hat. Es ist in diesem Zusammenhang jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Rechtsbehelfsbelehrung nach ihrem Zweck und ihrem gesamten Inhalt ausschließlich an den Adressaten des Bescheides richtet und dass sie deshalb – trotz der insgesamt passivischen Formulierung – erkennbar beschreibt, was dieser in der Frist von zwei Wochen zu tun bzw. zu veranlassen hat, um wirksam Klage zu erheben.

57 Selbst bei der Annahme, dass mitgemeint sein sollte, dass die Klageschrift auch vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle "abgefasst" werden könnte, ist ein solches Verständnis der Rechtsmittelbelehrung nicht zwingend. Die Rechtsmittelbelehrung enthält keinen Hinweis darauf, dass der Adressat sich bei der Klageerhebung von einer staatlichen Stelle unterstützen lassen kann.

58 Der beim rechtsunkundigen Empfänger damit mögliche (falsche) Eindruck, er müsse selbst oder mit Hilfe einer von ihm beauftragten Person für die Schriftform der Klage sorgen und zur Klageerhebung mi t einem (vor)gefertigten Schriftstück erscheinen, wird dadurch noch verstärkt, dass die Rechtsbehelfsbelehrung einheitlich von der "Klage" spricht und - missverständlich - nicht zwischen dem Rechtsmittel als solchem und der Klageschrift unterscheidet. So wird der Empfänger im ersten Satz der Rechtsbehelfsbelehrung darauf hingewiesen, dass er gegen den Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht erheben könne. Hier ist ersichtlich das Rechtsmittel gemeint. Der hier maßgebliche dritte Satz der Rechtsbehelfsbelehrung verwendet dann ebenfalls den Begriff "Klage". Dies könnte vom Empfänger verkürzt so verstanden werden, dass er nur eine von vornherein abgefasste – also schriftliche – Klage beim Verwaltungsgericht erheben könne.

59,60 Ein rechtsunkundiger Bescheidempfänger konnte nach alledem nicht erkennen, dass es auch ausreicht, wenn er persönlich beim Verwaltungsgericht vorspricht und sein mündlich formuliertes Rechtsschutzbegehren vom dortigen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle protokollieren lässt. Dies sieht jedoch § 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO ausdrücklich vor. Danach kann die Klage beim Verwaltungsgericht auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden. Mit der Regelung soll dem Kläger der Rechtsschutz erleichtert werden, wenn er aus in seiner Person liegenden Gründen, etwa auch mangels hinreichender Kenntnis der deutschen Sprache, den persönlichen Gang zum Gericht vorzieht. Die vom Bundesamt gewählte Formulierung erschwert dem Betroffenen demgegenüber die Rechtsverfolgung. Denn es liegt nicht fern, dass sich der Betroffene selbst dem Erfordernis der schriftlichen Abfassung nicht gewachsen fühlt, er aber auch den Aufwand und die Kosten scheut, die mit einer Inanspruchnahme der Hilfe durch eine der deutschen Sprache mächtigen Person verbunden sind, und deshalb von der Klageerhebung absieht (vgl. erneut VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. April 2017 – A 9 S 333/17 –, juris, Rn. 30). [...]

71 Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Volksgruppe der Berber in Marokko allgemein einer flüchtlingsschutzrelevanten Benachteiligung unterliegt. So führt das Auswärtige Amt im aktuellen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko vom 14. Februar 2018 (Stand: November 2017), dort Abschnitt II. 1.3. Folgendes aus: "Etwa die Hälfte der Bevölkerung macht eine berberische Abstammung geltend und spricht eine der drei in Marokko vertretenen Berbersprachen. Dies ist wichtiger Teil ihrer Identität. Die meisten Berber in Marokko sehen sich jedoch nicht als ethnische Minderheit. Marokko fördert Sprache und Kultur der Berber inzwischen aktiv."

72,73 Auch frühere Erkenntnisse geben nichts für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Berber in Marokko her (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10. März 2017, vom 25. Januar 2016, vom 28. November 2014, vom 23. Juni 2013, vom 23. Dezember 2011, vom 6. November 2010 und vom 9. Oktober 2009 (jeweils Punkte II. 1 und II. 1.3: Keine staatlichen Repressionen gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Rasse oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe; speziell zu den Berbern: keine Unterdrückung der berberischen Kultur und Sprache mehr feststellbar – Lageberichte 2009, 2010 und 2011 –, Marokko ist mittlerweile zu einer aktiven Förderung von Sprache und Kultur der Berber übergegangen – Lagebericht 2013 –, keine Diskriminierung gegenüber ethnischen Minderheiten und inzwischen aktive Förderung von Sprache und Kultur der Berber durch den Staat – Lageberichte 2017, 2016 und2014 –). Vgl. insoweit auch die Urteile des VG Aachen vom 8. Juli 2009 – 9 K 1658/08.A –, UA Seite 5, n. v., und vom 5. März 2001– 9 K 2185/99.A –, juris, 1. Orientierungssatz; ferner Hess. VGH vom 18. Februar 1999– 9 UE 812/96 –, juris, Rn. 87 ff., in denen – soweit nach juris ersichtlich – letztmalig eine Gruppenverfolgung von Berbern in Marokko geprüft (und verneint) wurde). [...]