OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 03.05.2018 - 13 LB 2/17 - asyl.net: M26269
https://www.asyl.net/rsdb/M26269
Leitsatz:

[Verpflichtungserklärung nur für Dauer des Besuchsvisums gültig:]

Inhalt und Reichweite einer Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG sind durch Auslegung anhand der objektiv erkennbaren Umstände zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zu ermitteln. Maßgebend ist grundsätzlich der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen musste. Dieser Auslegungshorizont ändert sich ausnahmsweise dann, wenn die Verpflichtungserklärung durch Unterzeichnung eines von der Ausländerbehörde verwendeten Vordrucks mit vorformulierten Erklärungen und Erläuterungen und gegebenenfalls maßgeblich von der Ausländerbehörde vorgenommenen Änderungen oder Ergänzungen erteilt wird. In diesem Fall ist darauf abzustellen, wie der Erklärende die Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen durfte. Verbleiben insoweit Unklarheiten, gehen diese zu Lasten der den Vordruck verwendenden Ausländerbehörde.

(Amtlicher Leitsatz; unter Bezug auf VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.07.2017 - 11 S 2338/16 - asyl.net: M25280)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Besuchsvisum, Iran, Asylantrag, Kostenhaftung, Flüchtlingsanerkennung, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Geltungsdauer,
Normen: AufenthG § 68, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

30 II. Der Bescheid des Beklagten vom 4. Juli 2014 über die Heranziehung zu Kosten, die der Beklagte für den Lebensunterhalt des iranischen Staatsangehörigen D. nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Zeitraum vom 7. September 2012 bis zum 31. Juli 2014 aufgewandt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. [...]

33 1. Die Verpflichtungserklärung zur Begründung eines entsprechenden Kostenerstattungsanspruches der Ausländerbehörde ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung; einer vertraglichen Vereinbarung bedarf es nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - BVerwG 1 C 33.97 -, BVerwGE 108, 1, 5 - juris Rn. 26; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 8.12.2017 - 18 A 1197/16 -, juris Rn. 42; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 23.7.2015 - 7 A 11145/14 -, juris Rn. 23; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 5.7.2013 - 4 LC 317/11 -, juris Rn. 27; Bayerischer VGH, Urt. v. 26.4.2012 - 10 B 11.2838 -, juris Rn. 24; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 5.6.2007 - 11 LC 88/06 -, juris Rn. 6). Inhalt und Reichweite einer Verpflichtungserklärung, insbesondere für welchen Aufenthaltszweck und für welche Dauer sie gelten soll, sind durch Auslegung anhand der objektiv erkennbaren Umstände zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zu ermitteln (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.1.2017, a.a.O., S. 216 ff. - juris Rn. 27 ff.; Urt. v. 24.11.1998, a.a.O., S. 6 f. - juris Rn. 34). Maßgebend ist grundsätzlich der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen musste. Dieser Auslegungshorizont ändert sich ausnahmsweise dann, wenn die Verpflichtungserklärung durch Unterzeichnung eines von der Ausländerbehörde verwendeten Vordrucks mit vorformulierten Erklärungen und Erläuterungen und gegebenenfalls maßgeblich von der Ausländerbehörde vorgenommenen Änderungen oder Ergänzungen erteilt wird. In diesem Fall ist darauf abzustellen, wie der Erklärende die Erklärung bei objektiver Würdigung verstehen durfte. Verbleiben insoweit Unklarheiten, gehen diese zu Lasten der den Vordruck verwendenden Ausländerbehörde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.7.2017 - 11 S 2338/16 -, juris Rn. 29; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 7.8.2013 - 4 LB 14/12 -, juris Rn. 34; Bayerischer VGH, Urt. v. 26.4.2012, a.a.O., Rn. 26 f.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 5.6.2007, a.a.O., Rn. 6).

34 Unter Anwendung dieses Maßstabs hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass sich die Dauer der Verpflichtung im vorliegenden konkreten Einzelfall nur auf einen Zeitraum erstreckt, der mit der Ausstellung der Verpflichtungserklärung am 24. Oktober 2011 beginnt und jedenfalls mit dem Ablauf der Gültigkeitsdauer des Herrn D. erteilten Visums zu Besuchszwecken am 28. Juni 2012 endet.

35 Zwar enthält der von der Ausländerbehörde verwendete Vordruck unter "Dauer der Verpflichtung" die Angabe "vom Beginn der voraussichtlichen Visumgültigkeit am ... bis zur Beendigung des Aufenthalts o.g. Ausländers/in oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck". Der Kläger hat aber mit dem - durch die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover - maschinenschriftlich eingefügten Zusatz "gültig ab Ausstellungsdatum, Besuchseinreise" eine hiervon abweichende individuelle Dauer der Verpflichtung bestimmt. [...]

37 Dies gilt zum anderen aber auch für das Ende des Verpflichtungszeitraums. Dem Beklagten ist zuzugeben, dass der individuelle Zusatz "Besuchseinreise" für sich genommen nur wenig aussagekräftig ist und allenfalls auf eine Beschreibung des Aufenthaltszwecks hindeutet. Die gebotene objektive Würdigung der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung erkennbaren Umstände zeigt aber, dass der Empfänger der Erklärung, die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover, die Angabe "Besuchseinreise" als individuelle Bestimmung des Endes des Verpflichtungszeitraums auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeitsdauer des Herrn D. erteilten Visums zu Besuchszwecken am 28. Juni 2012 verstehen musste und auch der Erklärende, der Kläger, die Angabe dahin verstehen durfte.

38 Dies folgt zunächst aus dem Umstand, dass die Angabe "Besuchseinreise" in der Rubrik "Dauer der Verpflichtung" des Erklärungsvordrucks erfolgte. [...] Daraus, dass die Angabe "Besuchseinreise" hier nicht in den Rubriken "Voraussichtliche Dauer des Aufenthalts" sowie "Zweck des Aufenthalts" auf Seite 2 des Erklärungsvordrucks erfolgte, muss darauf geschlossen werden, dass sich die Angabe nicht in einer bloßen Information der Auslandsvertretung über den beabsichtigten Aufenthaltszweck und die voraussichtliche Aufenthaltsdauer erschöpft. Ihre Aufnahme gerade in die Rubrik "Dauer der Verpflichtung" zeigt vielmehr, dass der Angabe eine Bedeutung für die Bestimmung des Verpflichtungszeitraums zukommen sollte, wie dies für die weitere Angabe "gültig ab Ausstellungsdatum" zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Da der Beginn des Verpflichtungszeitraums bereits individuell auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Verpflichtungserklärung am 24. Oktober 2011 festgelegt worden war und insoweit keiner weiteren Erläuterung bedurfte, kann der Angabe nur eine Bedeutung für die Bestimmung des Endes des Verpflichtungszeitraums zukommen. Objektiv ist dieses mit der Gültigkeitsdauer des aufgrund der Verpflichtungserklärung erteilten Visums zu Besuchszwecken beschrieben.

39 Diese Auslegung findet Bestätigung in dem Umstand, dass der sich verpflichtende Kläger gegenüber der Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover seine finanzielle Leistungsfähigkeit weder nachweisen noch glaubhaft machen musste. [...] Die danach mangelnde Prüfung der finanziellen Leistungsfähigkeit durch die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover bestätigt, dass auch diese nicht nur von einem konkreten, sondern von einem überschaubaren, kurzen Verpflichtungszeitraum ausgegangen ist und dass der Kläger in diesem kurzen Zeitraum der Gültigkeitsdauer des aufgrund der Verpflichtungserklärung erteilten Visums zu Besuchszwecken etwa entstehende finanzielle Verpflichtungen ohne Weiteres wird erfüllen können. Gleiches gilt mit Blick auf die visumerteilende Auslandsvertretung, welche die mangelnde Bonitätsprüfung erkannt, diese aber gleichwohl nicht beanstandet (vgl. zur grundsätzlichen Unbeachtlichkeit einer ohne Bonitätsprüfung erteilten Verpflichtungserklärung: vgl. BMI, Bundeseinheitliches Merkblatt zur Verwendung des bundeseinheitlichen Formulars der Verpflichtungserklärung zu § 68 i.V.m. § 66 und § 67 AufenthG - M I 3 – 125 101 – 68/1 - (Stand: Oktober 2009), dort Nrn. 3 "Bonitätsprüfung" und 3.1 "Prüfungsmaßstab"), sondern auch mit Blick auf die beabsichtigte kurze Aufenthaltsdauer des Ausländers das beantragte Visum erteilt hat. [...]

42 2. Selbst dann, wenn die vom Kläger erteilte Verpflichtungserklärung die zu 1. dargestellte konkrete zeitliche Beschränkung nicht beinhaltet und sie deshalb Grundlage für eine Heranziehung des Klägers zu den Kosten für die Herrn D. im Zeitraum zwischen dem 7. September 2012 und dem 31. Juli 2014 gewährten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von insgesamt 7.633,64 EUR sein kann, erweist sich der Bescheid des Beklagten vom 4. Juli 2014 gleichwohl als rechtswidrig. Denn der Beklagte hat die im vorliegenden Fall erforderliche Ermessensentscheidung nicht getroffen. [...]

44 Hier ist ein atypischer Fall gegeben, der ausnahmsweise eine Ermessensentscheidung über die Heranziehung auf Grundlage der Verpflichtungserklärung erforderte. Die Atypik ergibt sich schon daraus, dass die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover die finanzielle Leistungsfähigkeit des sich verpflichtenden Klägers nicht überprüft hat (siehe oben B.II.1.).

45 Die danach erforderliche Ermessensentscheidung über die Heranziehung des Klägers auf Grundlage der Verpflichtungserklärung hat der Beklagte nicht getroffen. [...] Die daraus folgende Ermessensfehlerhaftigkeit im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO konnte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durch eine Nachholung von Ermessenserwägungen nicht geheilt werden. [...]