Aufenthaltsgewährung für Familiennachzug trotz Einreiseverbot:
1. Es verstößt gegen Art. 20 AEUV, wenn ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung nicht bearbeitet wird, weil gegen das drittstaatsangehörige Familienmitglied ein Einreiseverbot besteht, ohne zu prüfen, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dieser Person und dem Familienmitglied mit Unionsbürgerschaft besteht.
2. Dabei ist es unerheblich, ob das Familienmitglied mit Unionsbürgerschaft zuvor von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.
3. Ein zu prüfendes Abhängigkeitsverhältnis führt für das drittstaatsangehörige Familienmitglied zu einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV, wenn ansonsten das Familienmitglied mit Unionsbürgerschaft gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.
4. Bei erwachsenen EU-Staatsangehörigen kommt ein solches Abhängigkeitsverhältnis nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem drittstaatsangehörigen Familienmitglied getrennt werden darf.
5. Bei minderjährigen EU-Staatsangehörigen müssen bei der Beurteilung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung an den Elternteil und das Risiko, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Elternteil aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.
6. Es ist unerheblich, ob das Abhängigkeitsverhältnis erst nach Verhängung des Einreiseverbots entstanden ist und auch, ob es bereits bestandskräftig war.
7. Es ist unerheblich, wenn das Einreiseverbot darauf gründet, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Wenn das Einreiseverbot mit Gründen der öffentlichen Ordnung begründet wurde, ist dies nur dann erheblich, wenn sich aus einer konkreten und verhältnismäßigen Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls, des Kindeswohls und der Grundrechte ergibt, dass die betroffene Person tatsächlich eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
39 Einleitend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass alle in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte die Weigerung der zuständigen nationalen Behörde betreffen, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, der in Belgien von einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines belgischen Staatsangehörigen ist, als Abkömmling, Elternteil oder gesetzlich zusammenwohnender Partner dieses belgischen Staatsangehörigen gestellt wurde, wobei die Weigerung damit begründet wird, dass gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt worden sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nach nationalem Recht grundsätzlich in ihrem Herkunftsland einen Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung des gegen sie verhängten Einreiseverbots stellen müssten, bevor sie rechtswirksam einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellen könnten.
40 Sodann stellt das vorlegende Gericht klar, das in allen der sieben verbundenen Ausgangsverfahren der betreffende belgische Staatsangehörige nie von seiner Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht habe. [...]
41 Schließlich geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von der zuständigen nationalen Behörde erlassenen "Entfernungsbeschlüsse" die Verpflichtung für die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren beinhalten, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, und dass sie mit einem Einreiseverbot einhergehen. [...]
Zur Weigerung, einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, weil gegen den Antragsteller ein Verbot der Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat verhängt wurde
43 Als Erstes ist zu klären, ob die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 oder Art. 20 AEUV, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats stellt, nicht bearbeitet wird.
Zur Richtlinie 2008/115 [...]
46 Daraus folgt, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere deren Art. 5 und 11, dahin auszulegen ist, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.
Zu Art. 20 AEUV [...]
51 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C-34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, sowie vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C-133/15, EU:C:2017:354, Rn. 63).
52 Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, EU:C:2011:734, Rn. 65 bis 67, vom 6. Dezember 2011, O u.a., C-356/11 und C-357/11, EU:C:2012:776, Rn. 56, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C-133/15, EU:C:2017:354, Rn. 69).
53 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis die Verfahrensmodalitäten betrifft, nach denen ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung das Bestehen eines abgeleiteten Rechts nach Art. 20 AEUV geltend machen kann.
54 Insoweit ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C-133/15, EU:C:2017:354, Rn. 76).
55 Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis macht die Prüfung des Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung und die etwaige Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV aber von der Verpflichtung des betreffenden Drittstaatsangehörigen abhängig, zuvor das Unionsgebiet zu verlassen, um einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu stellen. Aus der Vorlageentscheidung geht außerdem hervor, dass die Prüfung des etwaigen Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, in dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sinne unterbleibt, solange der Drittstaatsangehörige nicht die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots erreicht hat.
56 Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung kann die dem Drittstaatsangehörigen somit durch die in Rede stehende nationale Praxis auferlegte Verpflichtung, das Unionsgebiet zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu beantragen, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV beeinträchtigen, wenn die Befolgung dieser Verpflichtung aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, dazu führt, dass der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und folglich ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum zu verlassen, der, worauf das vorlegende Gericht hinweist, von unbestimmter Dauer wäre.
57 Folglich darf zwar die Weigerung eines Drittstaatsangehörigen, der Rückkehrverpflichtung nachzukommen und im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens zu kooperieren, es ihm nicht ermöglichen, sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots ganz oder teilweise zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C-225/16, EU:C:2017:590, Rn. 52), doch darf die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit einem Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats befasst ist, die Bearbeitung dieses Antrags nicht allein deshalb verweigern, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verhängt wurde. Sie ist vielmehr verpflichtet, den Antrag zu prüfen und zu beurteilen, ob zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem betreffenden Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, so dass dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, da andernfalls der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde. Wenn dies der Fall ist, muss der betreffende Mitgliedstaat die gegen den Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung und das ihm auferlegte Einreiseverbot aufheben, zumindest aber aussetzen.
58 Es liefe nämlich dem mit Art. 20 AEUV verfolgten Ziel zuwider, den Drittstaatsangehörigen zu zwingen, das Unionsgebiet für unbestimmte Zeit zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Verbots der Einreise in dieses Gebiet zu erreichen, ohne dass zuvor geprüft worden wäre, ob nicht zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zwingen würde, den Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland zu begleiten, obwohl diesem gerade aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden müsste.
59 Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung können Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dieses Ergebnis nicht infrage stellen. [...]
62 Demnach ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.
Zum Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das in den Ausgangsverfahren ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann
63 Als Zweites sind die Umstände zu prüfen, aufgrund deren in den verbundenen Ausgangsverfahren ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen kann, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu begründen. [...]
65 Zum einen ist in Bezug auf die Ausgangsverfahren, in denen K. A., M. Z. und B. A. Beschwerdeführer sind, zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Erwachsener im Unterschied zu Minderjährigen – erst recht, wenn es sich bei diesen um Kleinkinder wie die Unionsbürger handelt, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C-34/09, EU:C:2011:124), ergangen ist – grundsätzlich in der Lage ist, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen. Daraus folgt, dass die Anerkennung eines Abhängigkeitsverhältnisses, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu rechtfertigen, zwischen zwei Erwachsenen, die derselben Familie angehören, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht kommt, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist. [...]
73 Somit gehört der Umstand, dass der Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, mit dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, zusammenlebt, zu den relevanten Gesichtspunkten, die zu berücksichtigen sind, um zu bestimmen, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, ohne jedoch eine notwendige Bedingung dafür darzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a., C-356/11 und C-357/11, EU:C:2012:776, Rn. 54).
74 Hingegen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, EU:C:2011:734, Rn. 68, und vom 6. Dezember 2012, O u. a., C-356/11 und C-357/11, EU:C:2012:776, Rn. 52).
75 Somit kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Elternteil nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit das minderjährige Kind besitzt.
76 Aus den Rn. 64 bis 75 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 20 AEUV wie folgt auszulegen ist:
Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.
Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.
Zur Bedeutung des Zeitpunkts, zu dem das Abhängigkeitsverhältnis entstanden ist
77 Als Drittes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde. [...]
81 Nach alledem ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.
Zur Bestandskraft des Einreiseverbots
82 Als Viertes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte. [...]
84 Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.
Zu den Gründen für das Einreiseverbot
85 Als Fünftes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist, oder mit Gründen der öffentlichen Ordnung. [...]
97 Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.
Zur dritten Frage
98 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sowie die Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden.
99 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage dahin zu verstehen, dass sie sich ausschließlich auf die Fälle bezieht, in denen der Drittstaatsangehörige nicht in den Genuss eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV kommen kann. [...]
107 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können. [...]