VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 19.04.2018 - A 1 K 5032/17 - asyl.net: M26221
https://www.asyl.net/rsdb/M26221
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Unteroffizier der afghanischen Armee:

1. Ein Unteroffizier der afghanischen Armee, der in die Gefangenschaft der Taliban geriet, ist vorverfolgt ausgereist. Ihm droht bei Rückkehr neuerliche Verfolgung.

2. Weder der afghanische Staat noch sonstige Schutzakteure sind in der Lage, Personen, die von den Taliban verfolgt werden, zu schützen. Dies gilt insbesondere für die umkämpfte Provinz Laghman (unter Bezug auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - asyl.net: M25717).

3. Wegen der landesweiten Vernetzung der Taliban besteht keine interne Fluchtalternative für Personen, die von den Taliban verfolgt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, Berufsgruppe, Soldaten, Armee, Militär, Berufssoldat, Vorverfolgung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Provinz Laghman, Laghman, afghanische Armee, Soldat, Offizier, Unteroffizier, Rückkehr,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2 Bst. a, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 2 S. 2, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Daran gemessen ist das Gericht der Überzeugung, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist und bei einer Rückkehr neuerlicher Verfolgung ausgesetzt sein wird. Für das Gericht bestehen nach den Angaben des Klägers und dem persönlichen Eindruck, den das Gericht von ihnen in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal der Wahrheit entsprechen. Das Gericht geht danach davon aus, dass der Kläger als Unteroffizier der afghanischen Armee in der Provinz Helmand in die Gefangenschaft der Taliban geriet, dort mehrere Tage festgehalten, verhört und geschlagen wurde und sich weiteren Verfolgungshandlungen nur durch eine Zusammenarbeit mit den Taliban - die er ablehnte - hätte entziehen können. Der Kläger war somit im Zeitpunkt seiner Ausreise von weiteren Verfolgungshandlungen von rechtserheblicher Intensität unmittelbar bedroht. Die unmittelbar drohende Verfolgung knüpfte an die ihm wegen seiner Tätigkeit als Unteroffizier der afghanischen Armee und der Verweigerung der Zusammenarbeit mit ihnen seitens der Taliban unterstellte Ablehnung einer fundamentalistischen Auslegung des Islam und damit an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an. Die Taliban sind nichtstaatliche Akteure im Sinn des § 3c Nr. 3 AsylG und der afghanische Staat wie auch die sonstigen, in § 3d AsylG genannten Schutzakteure sind nicht in der Lage, den Kläger vor weiterer Verfolgung durch diese zu schützen. Denn nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist ein Schutz vor Verfolgung generell dann gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um Verfolgung zu verhindern, u.a. etwa durch Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen. Dies ist in Afghanistan allerdings nicht gesichert. Denn infolge der sich im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung von den ISAF-Truppen an die afghanischen Sicherheitskräfte verschlechternden Sicherheitslage in allen Regionen Afghanistans bei gleichzeitigem Erstarken der regierungsfeindlichen Kräfte konnte der Kläger keinen wirksamen Schutz von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen erhalten und wird dies auch im Falle einer Rückkehr nicht können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - juris Rn. 63 ff.). Die Provinz Laghman, aus der der Kläger stammt, ist noch immer Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und regierungsfeindlichen Kräften (insbesondere den Taliban), sowie Anschlägen auf Mitglieder staatlicher Sicherheitskräfte wie beispielsweise einen stellvertretenden Distriktpolizeikommandanten, auf einfache Polizisten, auf ein Polizeifahrzeug usw. (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2017, a.a.O. Rn. 67 f. m.w.N.). Die Taliban haben in der Provinz traditionell einen starken Einfluss und beherrschen einige Bezirke weitgehend. Die staatlichen Sicherheitskräfte konzentrieren sich darauf, die Sicherheit in der Provinzhauptstadt, den Bezirkshauptstädten und auf den wichtigsten Straßenverbindungen nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten (vgl. zur aktuellen Lage dort EASO Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation Dec. 2017 S. 185 ff.).

Dem Kläger steht auch kein interner Schutz nach § 3e AsylG vor der im Fall einer Rückkehr zu erwartenden weiteren Verfolgung zur Verfügung. Es kann von ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich in der Stadt Kabul oder anderswo in Afghanistan niederlässt. Die Verfolgungsfurcht des Klägers besteht nach dem festgestellten Sachverhalt landesweit. Die Taliban verfügen landesweit über ein dichtes Netzwerk, das ihnen die nötigen Informationen liefert, um Individuen aufzuspüren, zuzuordnen und einzuschüchtern (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Whether the Taliban have he capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over long term; Taliban capacity to carry out targeted killings - 2012 - January 2016, vom 15.02.2016, abrufbar unter www.ecoi.net). [...]