VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07.03.2018 - 15a K 1784/16.A - asyl.net: M26204
https://www.asyl.net/rsdb/M26204
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Iraker aus Bagdad:

1. In Bagdad besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Aus dieser besonderen Gefahrensituation folgt eine individuelle Betroffenheit einer Zivilperson allein durch ihre Anwesenheit in Bagdad.

2. Bei der Berechnung der Gefahrendichte ist es nicht mehr möglich oder sinnvoll, entscheidend auf die Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohneranzahl abzustellen, da über letztere keine verlässlichen Zahlen mehr bekannt sind.

3. Aufgrund der in den Autonomen Kurdischen Gebieten herrschenden humanitären Situation für Flüchtlinge besteht dort kein interner Schutz.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, subsidiärer Schutz, Bagdad, Kurdische Gebiete, Kurdische Autonomiegebiete, interne Fluchtalternative, Gefahrendichte, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

Dies zugrunde gelegt, besteht nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in der Stadt Bagdad.

Den von der Kammer ausgewerteten aktuellen Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass sich die terroristischen Aktivitäten der letzten Jahre fortgesetzt haben. Die Zentralregierung des Irak und verschiedene Milizen kämpfen gegen diese Aktivitäten der Terrororganisation "Islamischer Staat". Darüber hinaus bestehen auch Kämpfe zwischen Milizen unterschiedlicher Ausrichtung. Bagdad war dabei die am meisten betroffene Region im Irak, indem dort mehr als die Hälfte aller Todesfälle verzeichnet wurden. Im Jahr 2013 kam es zu 1,55 Bombenexplosionen täglich in Bagdad, 2014 waren es 1,66 (vgl. Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015, S. 3 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017).

Gegenwärtig kommt es in Bagdad zu fast täglichen Angriffen insbesondere durch unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (vgl. ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle; Sicherheitstage aktuell und Entwicklungen seit 2016; Lage von Sunniten [a-10082], 27. März 2017).

Die beteiligten Akteure sind in der Lage, eine solche Kontrolle über die Stadt und die Provinz Bagdad (und damit einen Teil des Hoheitsgebietes des irakischen Staates) auszuüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchführen, dass die Zivilbevölkerung davon typische erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017; Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015).

Die in der Herkunftsregion des Klägers von diesen Gruppen durchgeführten Anschläge und gewaltsamen Übergriffe sind damit nicht lediglich Ausprägungen innerer Unruhen und Spannungen, sondern müssen auch wegen ihrer Dauer, Häufigkeit und Intensität als Formen der Gewaltausübung im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verstanden werden.

Aus dieser alltäglichen Gewalt in der Stadt Bagdad folgt zugleich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers, die aus seiner bloßen Anwesenheit als Zivilperson in der Konfliktregion resultiert.

Insbesondere die Häufigkeit und Intensität der Anschläge an öffentlichen, stark frequentierten Orten indizieren den völlig unberechenbaren Charakter der Anschläge und zugleich die konkrete und akute Bedrohung für jedermann jederzeit. Die Anschläge zielen auf öffentliche Einrichtungen, öffentliche Plätze, Moscheen, Kaffeehäuser, Einkaufsstraßen etc. Schiitische Stadtteile sind ebenso betroffen, wie sunnitische und gemischt bewohnte Teile der Stadt. Soweit die Anschläge in schiitische Gegenden stattfinden, werden sie dem IS zugerechnet, in sunnitischen und gemischten Gegenden werden der IS sowie schiitische Milizen hinter den Anschlägen vermutet (vgl. Finnish Immigration Service Security Situation in Baghdad - The Shia Militias, 29. April 2015, S. 3 f. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017). [...]

Aus der dargelegten besonderen Gefahrensituation folgt zur Überzeugung der Kammer auch die individuelle Betroffenheit des Klägers. Die hierfür - nach der Rechtsprechung - (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 und vom 17. November 2011 -10C 13.10 - juris) erforderliche Gefahrendichte, die anhand einer annäherungsweisen quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos zu ermitteln ist, folgt vorliegend aus der soeben dargelegten Häufigkeit und Qualität der Anschläge an Orten des öffentlichen Lebens, die in allen Teilen der Stadt verübt werden und regelmäßig erhebliche Zahlen Toter und schwer verletzter Menschen zur Folge haben.

Die Kammer stellt bei dieser Beurteilung nicht entscheidend auf die Größenordnung der Anschläge und der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl ab (vgl. so aber beispielsweise: Bayer. VGH, Beschluss vom 21. Dezember 2017 - 5 ZB 17.31893 -; VG Saarland, Urteil vom 9. Februar 2018 - 6 K 2662/16 -; VG Münster, Urteil vom 17. Januar 2018 - 6a K 2323/16.A; jeweils juris).

Denn zum einen kann derzeit nicht auf verlässliche Zahlen zurückgegriffen werden (vgl. so bezüglich der Einwohnerzahl ausdrücklich das Auswärtige Amt, vgl. www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976). Die Einwohnerzahl Bagdads sowie auch des Iraks ergibt sich derzeit aus Schätzungen, die auf der letzten Volkszählung im Jahr 1987 (damals ermittelt: 16,3 Millionen für den gesamten Irak) basieren, vgl. de.wikipedia.org/wiki/lrak, www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976 (die Volkszählung im Jahr 1997 bezog sich nicht auf die Region Kurdistan Irak, vgl. news.bbc.co.uk/2/hi/8204550.stm und variiert zwischen 7,6 (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976) und 5,4 Millionen bzw. 6,2 Millionen (für die Agglomeration Bagdad de.wikipedia.org/wiki/lrak) bzw. 28 Millionen (https://www.zdf.de/kinder/logo/der-irak-100.html), 29,6 Millionen (https://de.wikipedia.org/wiki/lrak), 36 Millionen (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976) und 38 Millionen (https://de.wikipedia.org/wiki/lrak) (für den gesamten Irak).

Es ist nicht erkennbar, ob die seitdem durch Krieg, Bürgerkrieg und IS-Terror stattfindenden erheblichen Fluchtbewegungen dabei hinreichend berücksichtigt werden konnten.

Bezüglich der Zahlen zu den zivilen Opfern stellt sich die Lage noch undurchsichtiger dar. Die irakische Regierung veröffentlicht selbst keine Zahlen mehr. Die drei wesentlichen Quellen, die Statistiken zu Opferzahlen veröffentlichen (UN Mission zur Unterstützung des Irak (UNAMI), Iraqi Body Count und Joel Wing), stellen das tatsächliche Ausmaß der Opferzahlen nicht dar, sondern jeweils lediglich einzelne Vorfälle, die sie dokumentieren konnten. Die UNAMI, weist bei der Veröffentlichung der zivilen Opferzahlen darauf hin, dass kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Das Ausmaß, die Qualität oder die Erheblichkeit bewaffneter Gewalt und terroristischer Aktivitäten im Hinblick auf die Lage der Zivilbevölkerung könnten nicht sicher abgebildet werden. Es wird auch von Behinderungen internationaler Hilfsorganisationen bei der Dokumentation der Opfer berichtet (vgl. dazu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak (24.08.2017) vom 23. November 2017, S. 86 ff.; Note on Methodology, www.uniraq.org/index.php.

Auch das Auswärtige Amt weist in seinem aktuellen Bericht ausdrücklich darauf hin, dass der Bericht mangels empirischer Grundlage allgemein und kursorisch bleiben muss. Statistisches Material werde nur eingeschränkt verwendet, da Angaben aus Medienberichten oder Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisatoren in vielen Bereichen - aufgrund der äußerst prekären Sicherheitslage im Irak - nicht überprüft werden könnten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Februar 2018).

Bezüglich der Zahlen ziviler Opfer durch die von den USA geführte Koalition im Irak wird berichtet, dass die Koalition nicht hinreichend ermittelt, um die Zahl ziviler Opfer im Kampf gegen den IS festzustellen (vgl. Bericht von Human Rights Watch vom 19. Dezember 2017, www.hrw.org/news/2017/12/19/us-led-coalition-iraqs-lame-boast-civilian-death-inquiries).

Zum anderen ist nach Auffassung der Kammer aufgrund der besonderen Anschlagssituation in der Stadt Bagdad die Ermittlung der konkreten Gefahrendichte unter Einschluss einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verfetzungsrisikos anhand der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl nicht geeignet, die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers in zutreffender Weise darzustellen. Insbesondere die Tatsache, dass Zivilpersonen die Anschlagsorte nicht meiden können, sondern diese für das tägliche Überleben aufzusuchen gezwungen sind (Marktplätze, Straßenkreuzungen, Einkaufszentren, Tagelöhnertreffpunkte) begründet die individuelle Gefahr für Zivilpersonen Opfer der Anschläge zu werden. Diese besondere Gefahrensituation aufgrund der durch die Anschläge geprägten Kampfhandlungen kann im Rahmen einer reinen Berechnung von Wahrscheinlichkeiten nicht hinreichend erfasst werden.

Dem Kläger steht auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG offen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer der subsidiäre Schutz aufgrund internen Schutzes nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteile reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Zunächst stellen die Bereiche der Autonomen Region Kurdistan unter Berücksichtigung des Ausmaßes des Flüchtlingsstroms keine "vernünftigerweise" zumutbare Möglichkeit eines internen Schutzes im Sinne von § 3e Abs. 1 und 2 AsylG dar. Einerseits ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass dem Kläger die Einreise in die Region Kurdistan-lrak möglich sein wird (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018 und vom 7. Februar 2017).

Selbst wenn dem Kläger die Einreise in diese Region möglich sein sollte, sind die Flüchtlingslager in der Autonomen Region Kurdistan überfüllt. Bereits im Jahr 2015 war die Region an den Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten angelangt. Eine Entspannung der Lage ist nicht erkennbar (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, S. 19 und vom 18. Februar 2016; UNHCR, Position zur Rückkehr in den Irak, 14. November 2016, www.unhcr.de/recht/laenderinformationen.html; UNHCR, Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA) for Yazidis in the Kurdistan Region of Iraq (KR-1), liegt in deutscher Übersetzung vor.

Etwa 1,2 Mio. Binnenflüchtlinge leben derzeit in der Region Kurdistan-Irak (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018, S.18). Die humanitäre und allgemeine Lage in der Kurdenregion verschlechtert sich zunehmend, je länger die Provinzen die Flüchtlinge versorgen und je mehr Menschen in dieser Region Zuflucht suchen. Nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl der aufgenommenen Binnenvertriebenen, befindet sich die Region in einer Finanzkrise (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, S. 19, und vom 12. Februar 2018, S. 18. [...]