VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 06.04.2018 - 6a K 682/17.A - asyl.net: M26201
https://www.asyl.net/rsdb/M26201
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus dem Irak:

1. Homosexualität ist im Irak zwar nicht unmittelbar, jedoch effektiv illegal, da rechtlich ausschließlich heterosexuelle Ehen vorgesehen und außereheliche Beziehungen verboten sind.

2. Homosexuelle im Irak sind nichtstaatlicher Verfolgung in Form von Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Ehrenmorden ausgesetzt.

3. Es gibt keinen hinreichenden staatlichen Schutz für Mitglieder sexueller Minderheiten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, homosexuell, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung, Strafverfolgung, Strafverfahren, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e AsylG,
Auszüge:

[...]

Denn Homosexuellen droht im Irak nach den Informationen aus den vorliegenden Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung (§ 3a AsylG) durch Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3c AsylG. Das Bundesamt verkennt rechtsfehlerhaft, dass es für Homosexuelle keinen internen Schutz im Irak gibt, vgl. § 3e AsylG.

Das irakische Strafgesetz verbietet gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten nicht, jedoch sind außereheliche sexuelle Beziehungen (indirekt) auf Grund de Paragraphen 394 illegal. Dadurch, dass das Gesetz gleichgeschlechtliche Ehen nicht vorsieht, verbietet es diese effektiv. Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, wird Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden. Konfessionelle Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt Mitglieder sexueller Minderheiten sowie Jugendliche aus der Emo-Subkultur bedroht und verfolgt. Die konfessionellen Milizen werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Eine polizeiliche Untersuchung ist in den wenigsten Fällen bekannt geworden; die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung denn als Schutzmacht empfunden. Staatliche Rückzugsorte für Mitglieder sexueller Minderheiten gibt es nicht, die Anzahl privater Schutzinitiativen ist sehr beschränkt. In vom IS kontrollierten Gebieten werden homosexuelle Handlungen mit dem Tod bestraft. Die Moral Policing Administration des IS und Online-Medien haben öffentlich 27 Hinrichtungen von Männern angekündigt, von denen behauptet wurde, dass sie homosexuell sind; zumindest neun davon im Irak. Die üblichste Methode des IS, Männer hinzurichten, von denen behauptet wird, dass sie homosexuell sind, ist das Herabstoßen von den Dächern hoher Gebäude. Schiitische Milizen üben Gewalt gegen homosexuelle Männer aus, sowie auch gegen Männer, von denen behauptet wird, dass sie homosexuell sind. Es wurde von Entführung, Exekution und Folter berichtet. Die zunehmende Gewalt und das damit verbundene Erstarken nichtstaatlicher bewaffneter Akteure hat Berichten zufolge die Schutzbedürftigkeit von Personen, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen, verstärkt. Diese Menschen, einschließlich Kinder, sind den Meldungen zufolge häufig zahlreichen Formen von Misshandlungen durch verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, einschließlich durch ihre nahen und entfernten Familienangehörigen, das allgemeine gesellschaftliche Umfeld, staatliche Behörden sowie. eine Vielzahl bewaffneter Gruppen (Vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation "Irak" des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 24. August 2017, S. 144 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Februar 2018 (Stand: Dezember 2017), Seite 14 f.)

Die dem Kläger bei einer Rückkehr drohende Verfolgung hat die Qualität einer relevanten Verfolgung i.S. von § 3 ff. AsylG. Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG an, konkret an § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bilden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihre deutlichen abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-199/12 bis C-201/12 - ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 - NVwZ 2014, S. 132, Juris Rnm. 41 ff.). [...]