EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 24.04.2018 - C-353/16 MP gg. Großbritannien - asyl.net: M26182
https://www.asyl.net/rsdb/M26182
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Folteropfer, wenn Behandlung verweigert wird:

1. Auch bei Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands bei Rückkehr einer Person, die im Herkunftsland Folter ausgesetzt war, ist nicht subsidiärer Schutz zu gewähren, wenn ihr die Behandlung nicht absichtlich verweigert werden würde.

2. Wenn einem Folteropfer aber in seinem Herkunftsland die Behandlung der psychischen und körperlichen Folgeschäden absichtlich verweigert werden würde, kann dies einen Anspruch auf subsidiären Schutz begründen, auch wenn keine Gefahr erneuter Verfolgung besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Folter, Folgeschäden, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, medizinische Versorgung, subsidiärer Schutz, Absicht, Behandlung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 18, RL 2011/95/EU Art. 15, RL 2011/95/EU Art. 15 Bst. b, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. f, GR-Charta Art. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, Antifolterkonvention Art. 2, Antifolterkonvention Art. 14,
Auszüge:

[...]

30 In diesem Zusammenhang ist erstens festzustellen, dass der Umstand, dass die betreffende Person in der Vergangenheit Opfer von Folterhandlungen durch die Behörden ihres Herkunftslands war, für sich genommen die Zuerkennung eines Anspruchs auf subsidiären Schutz zu einem Zeitpunkt, zu dem keine tatsächliche Gefahr mehr besteht, dass es bei einer Rückkehr in dieses Land erneut zu solchen Folterhandlungen kommt, nicht rechtfertigen kann. [...]

35 Zweitens ist jedoch festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte einen Drittstaatsangehörigen betrifft, der nicht nur in der Vergangenheit Opfer von Folterhandlungen der Behörden seines Herkunftslands geworden ist, sondern zudem – auch wenn er nicht mehr Gefahr läuft, bei einer Rückkehr in dieses Land erneut gefoltert zu werden – nach wie vor an schwerwiegenden psychischen Folgeschäden der damaligen Folterhandlungen leidet, die sich nach ordnungsgemäß getroffenen medizinischen Feststellungen im Fall einer Rückkehr deutlich verschlechtern würden, wobei die ernsthafte Gefahr eines Suizids dieses Drittstaatsangehörigen bestünde. [...]

38 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK kann das durch eine natürlich auftretende physische oder psychische Erkrankung entstehende Leiden unter diesen Artikel fallen, wenn es durch eine von den Behörden zu verantwortende Behandlung – die sich aus Haftbedingungen, einer Ausweisung oder anderen Maßnahmen ergeben kann – verschlimmert wird oder zu werden droht, sofern das dadurch entstehende Leiden das nach diesem Artikel erforderliche Mindestmaß der Schwere erreicht (vgl. in diesem Sinne EGMR, 13. Dezember 2016, Paposhvili gegen Belgien, CE:ECHR:2016:1213 JUD004173810, §§ 174 und 175; Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C-578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 68).

39 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann Art. 3 EMRK, sofern die gleiche Erheblichkeitsschwelle erreicht wird, der Ausweisung einer Person, deren Erkrankung nicht natürlich aufgetreten ist, auch in Fällen entgegenstehen, in denen das Fehlen von Behandlungsmöglichkeiten, dem sich diese Person nach ihrer Ausweisung gegenübersähe, nicht auf absichtlichen Handlungen oder Unterlassungen des Staates beruht, in den sie überstellt wird (vgl. in diesem Sinne EGMR, 29. Januar 2013, S. H. H. gegen Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2013:0129JUD006036710, § 89). [...]

45 Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, haben die nationalen Gerichte allerdings entschieden, dass Art. 3 EMRK einer Rückkehr von MP aus dem Vereinigten Königreich nach Sri Lanka entgegensteht. Die vorliegende Rechtssache betrifft mithin nicht den Schutz vor Ausweisung, der sich nach Art. 3 EMRK aus dem Verbot ergibt, eine Person unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszusetzen, sondern die gesonderte Frage, ob der Aufnahmemitgliedstaat gehalten ist, den subsidiären Schutzstatus nach der Richtlinie 2004/83 einem Drittstaatsangehörigen zu gewähren, der von den Behörden seines Herkunftslands gefoltert wurde und dessen schwere psychische Folgeschäden sich bei einer Rückkehr in dieses Land deutlich verschlimmern könnten, wobei die ernste Gefahr eines Suizids besteht.

46 Es trifft ebenfalls zu, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, auch wenn Art. 3 EMRK – wie in den Rn. 39 bis 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt – der Abschiebung eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen in ein Land, in dem keine angemessenen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, in absoluten Ausnahmefällen entgegensteht, ihm gleichwohl nicht gestattet werden muss, sich im Rahmen des subsidiären Schutzes nach der Richtlinie 2004/83 in einem Mitgliedstaat aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 40).

47 Während die Rechtssache, in der das Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C-542/13, EU:C:2014:2452), ergangen ist, einen Drittstaatsangehörigen betraf, der im Aufnahmemitgliedstaat Opfer eines Angriffs geworden war, geht es in der vorliegenden Rechtssache jedoch um einen Drittstaatsangehörigen, der Opfer von Folterhandlungen durch die Behörden seines Herkunftslands geworden ist und nach ordnungsgemäß getroffenen medizinischen Feststellungen aufgrund dieser Handlungen weiterhin an posttraumatischen Folgeerscheinungen leidet, die sich bei einer Rückkehr in dieses Land erheblich und unumkehrbar verschlimmern können, bis hin zur Gefährdung seines Lebens.

48 Unter diesen Umständen sind der Grund für den derzeitigen Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, d. h. die von den Behörden seines Herkunftslands in der Vergangenheit verübten Folterhandlungen, sowie die erhebliche Verschlimmerung seiner psychischen Störungen im Fall seiner Rückkehr in dieses Herkunftsland, beruhend auf dem psychischen Trauma, das er wegen dieser Folterhandlungen erlitten hat, für die Auslegung von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 relevante Aspekte.

49 Eine solche erhebliche Verschlimmerung kann jedoch für sich genommen nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Drittstaatsangehörigen in seinem Herkunftsland im Sinne von Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie angesehen werden.

50 Insoweit sind, wie in der Vorlageentscheidung angeregt, die Auswirkungen zu prüfen, die es haben kann, dass im Herkunftsland des Betroffenen eine geeignete Infrastruktur zur Behandlung physischer oder psychischer Folgeschäden der von den Behörden dieses Landes verübten Folterhandlungen fehlt.

51 Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der in Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannte ernsthafte Schaden nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslands sein darf. Die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen angemessener Behandlungsmöglichkeiten in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung absichtlich verweigert würde, kann keine ausreichende Rechtfertigung dafür sein, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 35 und 36).

52 Bei der Beurteilung, ob ein Drittstaatsangehöriger, der in der Vergangenheit von den Behörden seines Herkunftslands gefoltert wurde, bei einer Rückkehr in dieses Land tatsächlich Gefahr läuft, dass ihm geeignete Behandlungen physischer oder psychischer Folgeschäden der von diesen Behörden verübten Folterhandlungen absichtlich vorenthalten werden, ist – wie in Rn. 50 des vorliegenden Urteils und im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83, wonach die Kriterien für die Gewährung des subsidiären Schutzes den völkerrechtlichen Rechtsakten im Bereich der Menschenrechte entsprechen sollten, ausgeführt – Art. 14 der Antifolterkonvention zu berücksichtigen. 53 Nach dieser Bestimmung trifft die Vertragsstaaten die Pflicht, in ihrer Rechtsordnung sicherzustellen, dass dem Opfer einer Folterhandlung ein Anspruch auf Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation zusteht.

54 Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die mit der Richtlinie 2004/83 geschaffenen Mechanismen von der Antifolterkonvention abweichende Ziele verfolgen und klar von ihr getrennte Schutzmechanismen einführen (vgl. entsprechend Urteil vom 30. Januar 2014, Diakité, C-285/12, EU:C:2014:39, Rn. 24).

55 Wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund und aus Art. 2 der Antifolterkonvention ergibt, besteht ihr wesentliches Ziel darin, dem Kampf gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe in der ganzen Welt dadurch größere Wirksamkeit zu verleihen, dass solche Handlungen verhindert werden. Das wesentliche Ziel der Richtlinie 2004/83 besteht hingegen nach ihrem sechsten Erwägungsgrund darin, zum einen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestmaß an Schutz für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und zum anderen sicherzustellen, dass allen diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. Was speziell Personen betrifft, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, soll durch die Richtlinie Personen, die, ohne dass sie als Flüchtlinge angesehen werden könnten, Gefahr liefen, u.a. Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückgeschickt würden, im Gebiet der Mitgliedstaaten ein Schutz gewährt werden, der dem entspricht, der Flüchtlingen nach dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) zusteht.

56 Daher kann sich die Möglichkeit für einen Drittstaatsangehörigen, der sich in einer Situation wie der von MP befindet, zur Inanspruchnahme der subsidiären Schutzregelung nicht aus jedem Verstoß seines Herkunftsstaats gegen Art. 14 der Antifolterkonvention ergeben, da sonst die jeder der beiden Regelungen eigenen Bereiche verkannt würden.

57 Folglich obliegt es dem vorlegenden Gericht, im Licht aller aktuellen und relevanten Informationen, insbesondere der Berichte internationaler Organisationen und von Nichtregierungsorganisationen, die sich mit dem Schutz der Menschenrechte befassen, zu prüfen, ob MP im vorliegenden Fall bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland der Gefahr ausgesetzt sein könnte, dass ihm eine angemessene Behandlung der physischen oder psychischen Folgeschäden der von den Behörden dieses Landes verübten Folterhandlungen absichtlich verwehrt wird. Dies wäre u.a. dann der Fall, wenn – wie im Ausgangsverfahren – bei dem Drittstaatsangehörigen infolge des Traumas, das die Folge der an ihm durch die Behörden seines Herkunftslands verübten Folterhandlungen ist, die Gefahr eines Suizids besteht, es aber auf der Hand liegt, dass diese Behörden ungeachtet der Verpflichtung aus Art. 14 der Antifolterkonvention nicht bereit sind, seine Rehabilitation sicherzustellen. Eine solche Gefahr könnte auch dann bestehen, wenn diese Behörden beim Zugang zur medizinischen Versorgung offenbar in diskriminierender Weise vorgehen, so dass bestimmten ethnischen Gruppen oder bestimmten Kategorien von Personen, zu denen MP gehört, der Zugang zur angemessenen Behandlung der physischen oder psychischen Folgeschäden von Folterhandlungen dieser Behörden erschwert wird.

58 Nach alledem sind Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 im Licht von Art. 4 der Charta dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der in der Vergangenheit von den Behörden seines Herkunftslands gefoltert wurde und bei der Rückkehr in dieses Land nicht mehr der Gefahr einer Folter ausgesetzt ist, aber dessen physischer und psychischer Gesundheitszustand sich in einem solchen Fall erheblich verschlechtern könnte, wobei die ernsthafte Gefahr besteht, dass er aufgrund eines auf den ihm zugefügten Folterhandlungen beruhenden Traumas Suizid begeht, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in Betracht kommt, sofern eine tatsächliche Gefahr besteht, dass ihm in diesem Land eine angemessene Behandlung der physischen oder psychischen Folgeschäden dieser Folterhandlungen absichtlich vorenthalten wird; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts. [...]