OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2018 - 12 B 11.17 - asyl.net: M26146
https://www.asyl.net/rsdb/M26146
Leitsatz:

[Rechtsgrundlage zur Verlängerung eines eigenständigen Aufenthaltstitels für inzwischen volljährige Kinder:]

Bei einem volljährigen Ausländer, der im Bundesgebiet geboren oder als Kind nachgezogen ist und bei Vollendung des 16. Lebensjahres fünf Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war, richtet sich die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis so lange nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 AufenthG, bis eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen ist, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bestandskräftig abgelehnt oder der Aufenthaltstitel sonst erloschen ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Volljährigkeit, Aufenthaltserlaubnis, Sicherung des Lebensunterhalts, Verlängerungsantrag, Niederlassungserlaubnis, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen,
Normen: AufenthG § 35 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 35 Abs. 3, AufenthG § 35 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 34 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht auch den rechtlichen Ansatz des ablehnenden Bescheides bestätigt. Der Beklagte stützt den angefochtenen Bescheid, was die Ablehnung der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis angeht, auf § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG, was die übrigen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen (§§ 34 Abs. 3, 25 Abs. 5 AufenthG) anbetrifft, darauf, dass die im Rahmen dieser Bestimmungen zur Anwendung gelangende Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG nicht erfüllt sei. Insoweit liege auch kein Ausnahmefall im Hinblick auf den Schutz des Privatlebens des Klägers nach Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK vor, weil dem noch jungen und ungebundenen, im Bundesgebiet mit seinen Eingliederungsbemühungen ohne Erfolg gebliebenen Kläger eine Integration im Staat seiner Staatsangehörigkeit zugemutet werden könne. Diesem rechtlichen Ansatz, der maßgeblich daran anknüpft, dass der Kläger im Zeitpunkt seines Verlängerungsantrages bereits volljährig war, folgt der Senat nicht.

a) Das Verlängerungsbegehren des Klägers findet seine Rechtsgrundlage nicht in den §§ 35 Abs. 1 Satz 2 und 34 Abs. 3 AufenthG, sondern in § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 AufenthG.

Der Kläger gehört zu der von § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfassten Gruppe der Kinder von Ausländern, die bei Vollendung des 16. Lebensjahres bereits seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis waren. Der Kläger ist im Bundesgebiet geboren und erhielt schon vor Vollendung des vierten Lebensjahres eine bis zum Tag vor seinem 16. Geburtstag gültige Aufenthaltserlaubnis, die nachfolgend verlängert wurde. Die ihm damit eingeräumte (eigenständige) Rechtsstellung geht nicht dadurch verloren, dass die Ausländerbehörde ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowohl vor Vollendung des 16. Lebensjahres als auch des 18. Lebensjahres einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geprüft, aber wegen des Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt und des erfolglosen und unregelmäßigen Schulbesuchs im Jahre 2011 bzw. wegen des Fehlens einer schulischen oder beruflichen Ausbildung verneint hat und dem Kläger jeweils ein entsprechendes Hinweisschreiben aushändigte. Vielmehr bleibt der Anspruch nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nach Eintritt der Volljährigkeit auf erneuten Antrag zu prüfen, bis dem Betroffenen eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann, die Verlängerung der eigenständigen Aufenthaltserlaubnis bestandskräftig abgelehnt oder der Aufenthaltstitel sonst erloschen ist.

Dafür spricht bereits der systematische Zusammenhang mit § 34 Abs. 3 AufenthG, wonach die eigenständige Aufenthaltserlaubnis des volljährigen Kindes solange verlängert werden kann, wie die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis noch nicht vorliegen. Aus dieser Anforderung folgt, dass jeweils die Vorschrift des § 35 AufenthG vorrangig zu prüfen ist.

Dabei ist zwischen den verschiedenen Anspruchspositionen nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AufenthG zu unterscheiden. Diese sind aber nicht so zu verstehen, wie der Wortlaut der Norm es nahelegen mag und wovon der Beklagte in seinen Verfahrenshinweisen ausgeht, dass § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur auf den minderjährigen Antragsteller Anwendung findet, während der Anspruch eines Volljährigen an den gesteigerten Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu messen ist, letztgenannte Vorschrift also nach Eintritt der Volljährigkeit die Anwendung von § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als lex specialis sperrt (vgl. Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin – VAB – A Nr. 35.1.1).

Diese Sichtweise stößt schon nach dem Wortlaut zumindest auf Bedenken, weil nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG kumulativ mit der Volljährigkeit der fünfjährige Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gefordert wird. Das lässt sich dahin verstehen, dass die Vorschrift insgesamt den Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis unter gegenüber § 9 Abs. 2 AufenthG verringerten Anforderungen für Kinder regeln will, die erst so spät in das Bundesgebiet nachgezogen sind, dass sie bei Vollendung des 16. Lebensjahres noch nicht die nach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderliche Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis erfüllten, sondern dieser Tatbestand erst bis zur Volljährigkeit und je nach Erteilungszeitpunkt der ersten Aufenthaltserlaubnis bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres eingetreten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. November 2009 – 1 C 24.08 – BVerwGE 135, 225, juris Rn. 24; Urteil vom 13. September 2011 – 1 C 17.10 – BVerwG 140, 332, juris Rn. 22). An diese Gruppe volljähriger Antragsteller stellt der Gesetzgeber typisierend gesteigerte Anforderungen, weil bei ihr die Vermutung einer Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse weniger begründet ist, da sie einen längeren Teil ihrer jugendlichen Entwicklung im Ausland verbracht haben und dort stärker geprägt worden sind als die von § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasste Gruppe. Diese Personengruppe hat sich spätestens seit dem Abschluss der Grundschulzeit, in Ländern mit regelmäßig sechsjähriger Grundschule noch während der Grundschulzeit, mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten und ist in die hiesigen Lebensverhältnisse gleichsam hineingewachsen. Die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Vermutung ist nicht widerlegbar, insbesondere nicht durch die gesteigerten tatbestandlichen Anforderungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nach Eintritt der Volljährigkeit (so aber VAB a.a.O.). Bei Ausländern, die die Merkmale des Versagungstatbestandes nach § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erfüllen, wird der Anspruch vielmehr zu einer Ermessensentscheidung herabgestuft, ob eine Niederlassungserlaubnis oder eine – freilich von den durch die Versagungstatbestände abgedeckten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen unabhängige – Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. [...]

b) Lagen hiernach die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf den Verlängerungsantrag vom 16. November 2015 bei dem Kläger weiterhin nicht vor, weil er mangels Sicherung des Lebensunterhalts den Versagungsgrund nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllte, hatte der Beklagte gemäß § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach Ermessen über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden. Für einen Rückgriff auf die allgemeine Rechtsgrundlage für die Verlängerung des eigenständigen Aufenthaltsrechts volljähriger Kinder nach § 34 Abs. 3 AufenthG und die Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG war dagegen kein Raum, so dass es an der gebotenen Ermessensentscheidung fehlt und der Beklagte zur Neubescheidung verpflichtet ist. [...]