VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 22.03.2018 - 2 A 495/16 - asyl.net: M26139
https://www.asyl.net/rsdb/M26139
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörigen der sunnitischen Elite aus dem Irak:

1. Flüchtlingsanerkennung für Iraker, der als Arzt und Universitätsdozent Angehöriger der akademischen sunnitischen Elite ist und deswegen von der schiitische Miliz bedroht wurde.

2. Wegen Bekanntheitsgrad und herausgehobener gesellschaftlicher Stellung keine Möglichkeit internen Schutzes.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Schiiten, Sunniten, Berufsgruppe, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Akademiker, Elite, Asylrelevanz, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]
Zu Unrecht nimmt die Beklagte jedoch an, dass es sich hierbei um bloßes kriminelles Unrecht gehandelt hat. Vielmehr ist das Gericht nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel der Überzeugung, dass die Verfolgungshandlungen, denen der Kläger ausgesetzt gewesen ist, an dessen sunnitischer Religionszugehörigkeit angeknüpft haben. Damit ist der Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfüllt.

Der Kläger gehört ohne Zweifel zur akademischen sunnitischen Elite im Irak. Sowohl nach seinem Vortrag als auch nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht es den schiitischen Milizen wie auch anderen schiitischen Entscheidungsträgern darum, die sunnitischen Eliten aus dem Land zu vertreiben. Dies hat der Kläger durch Nennung von Einzelbeispielen aus seinem Kollegen- und Bekanntenkreis dargelegt; dies wird aus den vorliegenden Erkenntnismitteln bestätigt.

So bezeichnet der Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.02.1018 (Stand: Dezember 2017) u.a. Intellektuelle als eine besonders gefährdete Gruppe. Zudem heißt es dort (a.a.O. Seite 16), die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes gebildet habe, sei nach Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt worden. Oftmals würden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Diese Einschätzung wird durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA) im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 24.08.2017, Textziffer 15.4 bestätigt. Weiter heißt es hierin in Abschnitt 3.3, die Vorstöße des IS im Nord- und Zentral-Irak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen hätten dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen hätten, die Kriminalität zugenommen hätte und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht würden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad. Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden seien, um den IS zu bekämpfen, verrichteten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrierten sie mit der regulären Polizei, missachteten die Gesetze und verhielten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. Die Milizen erschwerten zunehmend die Arbeit der Lokalen Polizeikräfte. Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden. Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber habe in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. PMF-Milizen würden immer wieder Kidnapping und Morde an der sunnitischen Bevölkerung begehen, die nicht untersucht würden, oder sie sprächen Drohungen dieser gegenüber aus.

Es liegt auf der Hand, dass solchen Drohungen gerade und vor allem auch Personen ausgesetzt sind, die, wie der Kläger, einen gewissen Bekanntheitsgrad in der irakischen Gesellschaft erlangt haben. Da es den schiitischen Milizen gerade und vor allem darum geht, Sunniten aus dem gesellschaftlichen Leben zu verdrängen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass das dem Kläger geschehene Unrecht rein krimineller Natur gewesen ist. Es verfolgt vielmehr das Ziel den Kläger als herausgehobenen sunnitischen Intellektuellen zu treffen. Damit knüpft die Verfolgung an seine Religionszugehörigkeit an.

Grundsätzlich sieht die Kammer für Sunniten in Bagdad allerdings die Möglichkeit eines internen Schutzes nach § 3e AsylG in denjenigen Stadtvierteln Bagdads, in denen ausschließlich Sunniten leben (vgl. Urteil von heute im Verfahren 2 A 485/16). Indes kann der Kläger hierauf nicht verwiesen werden, weil er infolge seines erheblichen öffentlichen Bekanntheitsgrades und seiner herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung als international bekannter Arzt auch hier jederzeit Opfer gezielter gewalttätiger Übergriffe werden kann. [...]