VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 17.05.2017 - 8 K 4022/15 - asyl.net: M26125
https://www.asyl.net/rsdb/M26125
Leitsatz:

Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG besteht nicht, wenn sich der Ausländer acht Wochen unerlaubt, hier: ohne Duldung, im Bundesgebiet aufgehalten hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Duldung, unerlaubter Aufenthalt, deutsches Kind, offensichtlich unbegründet, Rechtsanspruch, Ausweisungsinteresse, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Ermessen, Asylverfahren, Sperrwirkung, Familienzusammenführung, Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 30 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 30 Abs. 3 Nr. 2, AufenthG § 30 Abs. 3 Nr. 5, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

36 a) Die Erteilung der in erster Linie begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Nachzug zu seinen deutschen Kindern hat der Beklagte im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Allerdings erfüllte der Kläger offenbar die Voraussetzungen der einschlägigen Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, auch wenn er die Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft für das zweite Kind nicht eingereicht hat.

37 Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis stand jedoch § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG entgegen, nachdem der Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 Abs. 3 Nrn. 1, 2 und 5 AsylVfG (heute: AsylG) abgelehnt worden war. Das hatte zur Folge, dass dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nur im Falle eines Anspruchs erteilt werden durfte. Ein Anspruch in diesem Sinne muss ein strikter Rechtsanspruch sein, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und bei dem alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind; ein "Soll-Anspruch" oder ein sich aus einer Ermessensreduzierung im Einzelfall ergebender Anspruch reichen nicht aus (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 -, juris, Rz. 20; Urteil vom 14. Dezember 2014 - 1 C 15.14 -, juris, Rz. 15; Urteil vom 16. Dezember 2010 - 1 C 17.09 -, juris, Rz. 24).

38 aa) Ein solcher strikter Rechtsanspruch stand dem Kläger nicht zur Seite, weil er sich in der Zeit vom 11. Juni 2014 bis zum 6. August 2014 ohne Duldung oder ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dadurch war der Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit der Folge erfüllt, dass gegen den Kläger ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bestand. Nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. "Geringfügig" ist ein Rechtsverstoß nicht, wenn er vorsätzlich begangen wurde (BVerwG, Urteil vom 24. September 1996 - 1 C 9.94 -, juris, Rz. 20; OVG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 4 Bf 137/13 -, juris, Rz. 47). Davon ist hier nach allen erkennbaren Umständen auszugehen. Die am 27. Mai 2014 erteilte Duldung war bis zum 10. Juni 2014 befristet und der Kläger selbst hatte bei seiner Vorsprache am 27. Mai 2014 angekündigt, binnen 14 Tagen wieder vorsprechen oder seine Ausreise vorbereiten zu wollen. Gründe, die das Unterbleiben eines Antrags auf Verlängerung der Duldung als unverschuldet oder nicht wenigstens bedingt vorsätzlich erscheinen lassen könnten, hat er nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich.

39 bb) Dieser Rechtsverstoß und das dadurch begründete schwer wiegende Ausweisungsinteresse führen dazu, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt war. Die Vorschrift hat durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) ihren jetzigen Wortlaut erhalten; die Vorgängerfassung stellte auf das Nichtvorliegen eines Ausweisungsgrundes ab. Eine inhaltliche Änderung ist mit der Neufassung nach ganz überwiegender - wenn nicht einhelliger - Auffassung in Literatur und Rechtsprechung nicht verbunden. Sie dient allein der sprachlichen Anpassung an das mit dem genannten Gesetz grundlegend neu geordnete Ausweisungsrecht in §§ 53 ff. AufenthG. Nach wie vor kommt es im Rahmen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG allein darauf an, dass ein Ausweisungstatbestand vorliegt, während unerheblich bleibt, ob eine Ausweisung wegen dieses Tatbestandes im konkreten Fall zulässig wäre (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 25. August 2015 - 11 S 1500/15 -, Rz. 9; OVG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 2015, Rzn. 43 f.; VGH München, Beschluss vom 16. März 2016 - 10 ZB 14.2634 -, Rz. 6; OVG Münster, Beschluss vom 16. August 2016 - 18 B 754/16 -, Rzn. 11 ff., jew. zitiert nach juris; Funke/Kaiser in GK-AufenthG, Stand Oktober 2015, Rzn. 55 f. zu § 5; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2015, Rz. 26 zu § 5 AufenthG; Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, Rz. 8 zu § 5 AufenthG; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, Rzn. 45 ff. zu § 5 AufenthG; Bender/Leuschner in Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rz. 17 zu § 5 AufenthG; Zeitler in HTK-AuslR, Stand März 2017, Rzn. 1, 12 ff. zu § 5 AufenthG).

40 Damit bleibt für die hier allein in Rede stehende Frage, ob dem Kläger ein strikter Rechtsanspruch zur Seite gestanden hat, hinsichtlich der genannten Regelerteilungsvoraussetzung unerheblich, welches Gewicht der Rechtsverstoß für sich genommen und im Vergleich zu den Fallgruppen des § 54 Abs. 2 Nrn. 1 bis 8 AufenthG aufgewiesen hat. Unerheblich ist im Rahmen von § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auch, ob ein Ausnahmefall vorgelegen hat, der ein Absehen von der Einhaltung der genannten Regelerteilungsvoraussetzung hätte rechtfertigen können. Denn nach der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes kommt es für das Bestehen eines strikten Rechtsanspruchs nicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls des Ausländers an.

41 cc) Allerdings mag es Fälle geben, in denen das Gewicht des zum Ausweisungsinteresse führenden Rechtsverstoßes so untergeordnet erscheint, dass es mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar wäre, von der Nichterfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auszugehen (vgl. in diese Richtung wohl Bender/Leuschner, a.a.O.). Wo eine solche Grenze zu ziehen wäre - was im Ergebnis doch zu einer Betrachtung der Besonderheiten des Einzelfalles bei der Frage, ob ein Anspruch im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vorliegt, zwingen würde - bedarf im vorliegenden Fall keiner näheren Betrachtung. Geht es - wie hier - um den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, so mag ein kurzer Zeitraum von wenigen Tagen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit außer Acht bleiben müssen. Im Falle des Klägers geht es jedoch um einen etwa acht Wochen anhaltenden Verstoß. Ein solcher Zeitraum erscheint nicht völlig untergeordnet und deswegen ungeeignet, zur Nichterfüllung der  Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu führen. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in der auch vom Beschwerdegericht zitierten Entscheidung (Beschluss vom 4. September 2014 - 10 CS 14.1601 -, juris, Rz. 19) einen unerlaubten Aufenthalt über einen Zeitraum von wenig mehr als zwei Monaten für einen nicht mehr nur geringfügigen oder vereinzelten Verstoß gegen Rechtsvorschriften angesehen. Davon unterscheidet sich ein achtwöchiger unerlaubter Aufenthalt nicht wesentlich. [...]