OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 24.01.2018 - 2 LB 237/17 - asyl.net: M26102
https://www.asyl.net/rsdb/M26102
Leitsatz:

[Keine Verfolgung in Syrien wegen illegaler Ausreise und keine Verfolgung von Minderjährigen wegen Wehrdienstentziehung:]

Aus Syrien stammenden Personen droht bei einer (hypothetischen) Rückkehr in ihr Heimatland wegen ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und eines längeren Aufenthalts im westlichen Ausland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG.

Syrischen Jugendlichen, die bei ihrer (illegalen) Ausreise aus ihrem Heimatland erst zwölf Jahre alt waren, droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG wegen einer ihnen vor dem Hintergrund der Militärdienstentziehung unterstellten oppositionellen Gesinnung.

Minderjährigen syrischen Staatsangehörigen droht bei einer (hypothetischen) Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, vom syrischen Staat vor Erreichen der Volljährigkeit zwangsrekrutiert zu werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Militärdienst, minderjährig, illegale Ausreise, Zwangsrekrutierung, Asylantrag, Flüchtlingseigenschaft, Kurden, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, politische Verfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3 AsylG § 3 Abs. 1 AsylG § 3 Abs. 2 AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Eine mögliche Verfolgungshandlung ist mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit weder auf eine dem Kläger wegen seiner Ausreise, seines Auslandsaufenthalts und der Asylantragstellung zugeschriebene politische Überzeugung (aa.) noch auf eine dem Kläger wegen einer möglichen, durch die Ausreise erfolgten Wehrdienstentziehung zugeschriebene politische Überzeugung (bb.) zurückzuführen. Die erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung ergibt sich ebenso wenig aus der Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Kurden (cc.), seiner Herkunft aus Afrin (dd.) oder einer Kombination aller Merkmale (ee.). Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft schließlich auch nicht im Hinblick auf eine ihm seiner Auffassung nach drohende Zwangsrekrutierung (ff. und gg.) oder auf eine Verfolgungshandlung nach § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zuzuerkennen (hh.). [...]

Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deshalb Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, weil er sich aus Sicht des syrischen Regimes mit dem Verlassen des Landes der Militärdienstpflicht entzogen hätte und das Regime ihm aufgrund dessen eine oppositionelle politische Haltung zuschriebe. Zwar kann in einer Ausreise trotz bestehender Militärdienstpflicht ein zusätzliches, gefahrerhöhendes Moment im oben genannten Sinne liegen, mit der möglichen Folge, dass syrischen Männern, die sich auf diese Weise dem Militärdienst entzogen haben, im Hinblick darauf Verfolgung wegen der ihnen seitens des syrischen Regimes zugeschriebenen politischen Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG droht. Hierüber hat der Senat noch nicht entschieden. Beim Kläger besteht dieser Zusammenhang jedoch bereits deshalb nicht, weil er zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien noch nicht wehrpflichtig war. [...]

Beim Kläger fehlte es aufgrund seines Lebensalters an dieser tatsächlich bestehenden Militärdienstpflicht, weshalb auch aus Sicht der Sicherheitskräfte eine oppositionelle Gesinnung in seiner Ausreise mangels Militärdienstpflicht nicht zum Ausdruck kommt. In Syrien besteht nach dem Gesetz unverändert eine Wehrdienstpflicht für alle männlichen Syrer erst ab dem Alter von 18 Jahren. Der Senat geht davon aus, dass der Kläger wie bei seiner Anhörung beim Bundesamt angegeben Syrien im Jahr 2013 verlassen hat und somit bei seiner Ausreise aus Syrien zwölf Jahre alt war. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zwar zunächst erklärt, er sei wohl bei Verlassen des Landes neun oder zehn Jahre alt gewesen. Er konnte sich an sein genaues Alter allerdings nicht erinnern. Vergleichsweise sicher wirkte er hingegen bei seiner Angabe, er sei im Alter von sechs Jahren eingeschult worden und sechs Jahre lang zur Schule gegangen. War der Kläger danach zum Zeitpunkt seiner Ausreise (höchstens) zwölf Jahre alt, so befand er sich noch nicht im wehrpflichtigen Alter, so dass er auch keine Ausreisegenehmigung benötigte (vgl. für den Fall, dass das wehrpflichtige Alter bereits überschritten war: OVG Saarland, Urt. v. 17.10.2017 – 2 A 365/17 – juris, Rn. 25). Der Kläger war daher auch aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte nicht verpflichtet, sich schon im Hinblick auf die Ableistung seines Wehrdienstes zur Verfügung zu halten, so dass bei seiner Rückkehr im Rahmen der obligatorischen Einreisekontrollen am Flughafen Damaskus oder einer anderen staatlichen Kontrollstelle die syrischen Sicherheitskräfte keinen Anlass haben, dem Kläger eine oppositionelle Gesinnung wegen seiner Flucht ins Ausland zu unterstellen (vgl. BayVGH, Urt. v. 21.03.2017 – 21 B 16.31013 – juris, Rn. 87 und Urt. v. 21.03.2017 – 21 B 16.31011 – juris, Rn. 81).

Es ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden seitens des syrischen Regimes eine politische Überzeugung zugeschrieben würde und ihm deshalb Verfolgung drohte (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG).

In den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln besteht Uneinigkeit darüber, ob es generell besonders gefährdete Personengruppen gibt. Einer Auffassung nach seien alle Rückkehrer ungeachtet ihrer Ethnizität oder Religion von Misshandlungen bedroht. Andere halten Religion, Ethnizität, Herkunft für risikoerhöhende Faktoren (beide Auffassungen zitiert und belegt in IRB Canada, 19.01.2016, S. 7; vgl. auch UNHCR, November 2017, S. 5).

Insbesondere kurdische Männer zwischen 18 und 42 Jahren könnten unter Generalverdacht geraten, da einige kurdische Gruppierungen entschieden gegen die Regierung in Erscheinung träten (DOS/DOI, 01.02.2017, S. 2). Einigen Auskünften zufolge erhöhe daher die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden die Gefahr, Opfer staatlicher Verfolgung zu werden (vgl. UNHCR, Februar 2017, S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe, 21.03.2017, S. 11). Nach den aktuellsten Berichten jedoch hätten sich die religiösen und ethnischen Minderheiten weitgehend der Regierung angeschlossen und bekämpften zusammen mit dieser eine überwiegend sunnitische Opposition (UNHCR, November 2017, S. 54). Dementsprechend seien kurdische Zivilisten eher Zielscheibe von Angriffen aus den Reihen von ISIS, Jabhat Fatah Al-Sham und anderen regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen gewesen, die ihnen die Unterstützung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG oder der Regierung vorgeworfen hätten (UNHCR, November 2017, S. 55). Der UNHCR sieht daher eine Gefährdung Angehöriger religiöser oder ethnischer Minderheiten vorrangig in Gebieten, die von diesen oder anderen regierungsfeindlichen Gruppen kontrolliert werden (UNHCR, November 2017, S. 57). Auch nach dem Kenntnisstand des Auswärtigen Amtes würden politisch nicht aktive Syrer kurdischer Volkszugehörigkeit nicht aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit verfolgt, wenn auch Rachefeldzüge einzelner arabischstämmiger Syrer nicht ausgeschlossen seien (AA an VG Düsseldorf, 02.01.2017, S. 4). Ebenso teilt die Deutsche Botschaft in Beirut mit, Kurden seien in Syrien nicht per se aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit Übergriffen ausgesetzt (Botschaft Beirut, 03.02.2017, S. 3).

Dieser Auskunftslage lässt sich entnehmen, dass in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten, in die eine hypothetische Rückführung des Klägers ausschließlich möglich wäre, die kurdische Volkszugehörigkeit allenfalls ein weiterer Faktor bei der Bestimmung des Risikoprofils in dem Sinne sein kann, dass eine aus anderen Gründen den Regierungskräften verdächtig erscheinende Person als umso verdächtiger wahrgenommen werden könnte, wenn sie kurdischer Volkszugehörigkeit ist (in diese Richtung ebenfalls UNHCR, Februar 2017, S. 2). Der Kläger müsste also bereits aus anderen Gründen zu einer gefährdeten Personengruppe gehören, damit sich seine kurdische Volkszugehörigkeit gefahrerhöhend auswirken könnte (ebenso VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 09.08.2017 – A 11 S 710/17 – juris, Rn. 48). Dies ist – wie oben ausgeführt – nicht der Fall. [...]