LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.02.2018 - L 8 AY 1/18 B ER - Asylmagazin 5/2018, S. 184 ff. - asyl.net: M26058
https://www.asyl.net/rsdb/M26058
Leitsatz:

Vorläufige Gewährung von Analogleistungen nach AsylbLG für (volljährigen) Auszubildenden:

1. Seit der Änderung des § 7 Abs. 5 SGB II zum 1. August 2016, nach dem hilfebedürftige Personen, die eine förderungsfähige Berufsausbildung absolvieren, grundsätzlich aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beziehen können, bedarf es der näheren Prüfung der Reichweite des Leistungsausschlusses für Auszubildende nach § 22 Abs. 1 SGB XII, die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG beziehen.

2. Bei einer nach § 2 AsylbLG leistungsberechtigten Person kann ein Härtefall i.S. von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vorliegen, wenn sie eine förderungsfähige Berufsausbildung abbrechen müsste, weil sie mit der typischerweise geringen Vergütung und einer ggf. gewährten Berufsausbildungsbeihilfe ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.

3. Ein Entschließungsermessen ist dem Leistungsträger in derartigen Fällen nicht eingeräumt.

(Leitsätze der Redaktion, a.A.: LSG NRW, Beschluss vom 19.02.2018 - L 20 AY 4/18 B ER - asyl.net: M26067; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 24.11.2017 - L 9 AY 156/17 BER - juris)

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Analogleistungen, Ausbildungsförderung, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, förderungsfähige Ausbildung, besondere Härte, Hilfe zum Lebensunterhalt,
Normen: SGB XII § 22, SGB II § 7 Abs. 5, SGB III § 51, SGB III § 57, SGB III § 58,
Auszüge:

[...]

Infolge der mit Wirkung zum 1. August 2016 erfolgten Änderung einer vergleichbaren Regelung im SGB II spricht jedoch einiges dafür, dass der im SGB XII verankerte Ausschluss in § 22 Abs. 1 SGB XII möglicherweise nunmehr planwidrig zu weit ist. Denn beide Vorschriften betreffen denselben Personenkreis, nämlich hilfebedürftige Personen, die eine förderungsfähige Berufsausbildung absolvieren. [...]

34 Für die Parallelvorschrift § 22 SGB XII dürfte nichts anderes gelten (a.A.: LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 24. November 2017 - L 9 AY 156/17 B ER- juris Rn. 30). Andernfalls läge eine möglicherweise verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung vor.

35 Sinn und Zweck beider Vorschriften ist es, das Verhältnis von Leistungen der Ausbildungsförderung (also Ansprüche nach dem BAföG und dem SGB III) auf der einen Seite und Fürsorgeleistungen (also Ansprüche nach dem SGB II und dem SGB XII) auf der anderen Seite zu regeln. Ursprünglich waren in beiden Fürsorgesystemen weitgehende Leistungsausschlüsse vorgesehen. Der Gesetzgeber gestaltete die entsprechenden Vorschriften (§ 7 Abs. 5, 6 SGB II und § 22 Abs. 1, 2 SGB XII) bewusst parallel.

36 Vorbild für beide Vorschriften war § 26 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), der in beiden Gesetzen nahezu wortgleich übernommen wurde. Der Sinn des Anspruchsausschlusses bestand jeweils darin, kein weiteres Ausbildungsförderungssystem fürsorgerechtlicher Art zu schaffen. Die Ausbildungsförderung sollte grundsätzlich abschließend über die speziellen Fördersysteme des BAföG und des SGB III gewährleistet werden (Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage 2014, § 22 Rn. 2 m.w.N.). [...]

38 Wenn nun der Gesetzgeber einen ergänzenden Leistungsanspruch für Auszubildende im SGB II schafft - wie mit der Änderung des § 7 Abs. 5 durch das 9. SGB II-ÄndG geschehen - spricht vieles dafür, dass die Schnittstellen zu den Fürsorgeleistungen insgesamt entschärft werden sollten und damit auch im Verhältnis zu den Fürsorgeleistungen nach dem SGB XII. Der Gesetzgeber hat zwar den ursprünglich sehr weitreichenden Ausschluss bereits mit der Neufassung des SGB II ab dem 1. April 2011 relativiert, indem er die vom BSG (Urteil vom 6. September 2007 – B 14/7 b AS 36/06 R –) für das SGB II fortgeführte ständige Rechtsprechung des BVerwG zum ausbildungsbedingten Bedarf in Gestalt von § 27 SGB II zu wesentlichen Teilen in das geschriebene Recht aufgenommen hat (so Thie in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, LPK-SGB XII Sozialhilfe, 10. Auflage 2015, § 22 Rn. 2). Nach der nunmehr jedoch erfolgten erheblichen Entschärfung stellt sich die Frage, wie sich die dadurch eingetretenen Unterschiede zwischen dem SGB II und dem SGB XII hinsichtlich des Ausschlusses Auszubildender sachlich rechtfertigen lassen (Groth in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2017, § 22 SGB XII, Rn. 1).

39 Eine Ungleichbehandlung lässt sich jedenfalls nicht aus den unterschiedlichen Zwecken des AsylbLG einerseits sowie des SGB II andererseits rechtfertigen (so aber LSG Schleswig-Holstein, a.a.O.). Denn die zu prüfende Vorschrift befindet sich im SGB XII und nicht im AsylbLG. Insofern wäre zu prüfen, ob die auf § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII beruhende ungleiche Behandlung von Auszubildenden gegenüber den nach den Vorschriften des SGB II nunmehr leistungsberechtigten Auszubildenden gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet dem Gesetzgeber auch auf dem Gebiet der gewährenden Staatstätigkeit die willkürlich ungleiche Behandlung wesentlich gleicher Sachverhalte. Der Gesetzgeber darf nur aus sachlichen Gesichtspunkten bestimmte Gruppen der Bevölkerung von allgemein gewährten Leistungen ausschließen. Darüber hinaus müssen diese Gesichtspunkte dort, wo der Staat Leistungen gewährt, um soziale Härten auszugleichen, den Anforderungen der erstrebten sozialen Gerechtigkeit genügen (BVerfG, Beschluss vom 14. November 1969, 1 BvL 4/69, Rn. 19). Dementsprechend kommt Art. 3 Abs. 1 GG beim Ausschluss von einer Begünstigung zum Tragen, die einem anderen gewährt wird, vorausgesetzt, die fraglichen Personenkreise befinden sich in einer vergleichbaren Situation (Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Auflage 2016, Art. 3 Rn. 11). Vorliegend sind jeweils erwerbsfähige, hilfebedürftige Personen betroffen, die eine nach § 57 SGB III förderungsfähige Berufsausbildung absolvieren oder eine berufsvorbereitende Maßnahme nach § 56 SGB III. In den Gesetzesmaterialien zum 9. SGB II-ÄndG finden sich dazu keinerlei Ausführungen. Aus dem Umstand, dass mit dem Änderungsgesetz auch das SGB XII geändert wurde, lässt sich nach Ansicht des Senats nicht schließen, dass der Gesetzgeber die Regelung § 22 Abs. 1 SGB XII bewusst unverändert ließ (so aber LSG Schleswig-Holstein, a.a.O., Rn. 30). Die geringfügige Änderung des SGB XII befindet sich unter Artikel 3 ("Änderung weiterer Gesetze") in Abs. 8. Sie betrifft eine Folgeänderung im Zusammenhang mit der Erstattung von Unterkunftskosten, Rückschlüsse auf ein bewusstes Inkaufnehmen einer möglicherweise verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung können daraus nicht gezogen werden. Die Tatsache, dass der Gesetzesbegründung zur Änderung des § 7 Abs. 5 SGB II keine Ausführungen dazu zu entnehmen sind, spricht eher für das Vorliegen eines redaktionellen Versehens mit der Folge einer unbewussten Regelungslücke als dagegen (zum zulässigen Analogieschluss, wenn sich als mutmaßlicher Wille des Gesetzgebers ermitteln lässt, dass er den abweichenden, nicht geregelten Lebenssachverhalt in gleicher Weise behandeln würde wie den geregelten, BSG, Urteil vom 7. November 1990 – 9b/7 RAr 112/89 – juris Rn. 15). § 22 SGB XII hatte zudem - anders als noch die Vorgängervorschrift § 26 BSHG - nur geringe praktische Bedeutung. Wegen des nach § 21 SGB XII vorrangigen SGB II können im Wesentlichen nur noch voll erwerbsgeminderte Menschen und Menschen im (Alters-) Rentenalter von § 22 SGB XII betroffen sein. [...]

42 Ein Härtefall liegt vor, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß dessen hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfen zum Lebensunterhalt verbunden ist (BVerwG vom 14. Oktober 1993 – 5 C 16/91). Der Antragsteller hat einen monatlichen Bedarf in Höhe von 795,13 €. Das ihm unter Berücksichtigung der Absetzbeträge (hierzu später) zur Verfügung stehende Einkommen in Höhe von 455,43 € reicht evident nicht zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes aus.

43 Bei der Anwendung der Härteregelung ist der Zweck des Ausschlusses zu berücksichtigen, der bisher darin bestand, zu verhindern, eine versteckte Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene einzuführen (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 22 Rn. 56). Mit Blick auf diesen Zweck schien es geboten, einen besonderen Härtefall nicht bereits deswegen zu bejahen, weil infolge eines Ausschlusses eine Ausbildung wegen der fehlenden finanziellen Mittel nicht absolviert werden kann oder abgebrochen werden muss. Denn nach der gesetzgeberischen Wertung war diese Folge hinzunehmen: zuvörderst sollten erwerbsfähige Sozialleistungsempfänger dabei unterstützt werden ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbsarbeit zu sichern. Soweit jemand eine Ausbildung betreiben wolle, obwohl er dadurch seinen Lebensunterhalt nicht vollumfänglich sichern kann, handele es sich um eine vom Auszubildenden selbst zu verantwortende Entscheidung (so BSG, Urteil vom 6. September 2007 - B 14/7b AS 28/06 R- juris, zum Leistungsausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II a. F.).

44 Nunmehr setzt der Gesetzgeber jedoch andere Prioritäten: hilfebedürftige junge Menschen sollen vorrangig eine Berufsausbildung aufnehmen bzw. beenden, auch wenn sie infolge dessen u. U. für mehrere Jahre auf staatliche Hilfe angewiesen sind (vgl. BT-Drs. 18/8041 Seite 29). Dieser Perspektivwechsel ist im Rahmen der Härtefallprüfung zu berücksichtigen.

45 Der Antragsteller ist ohne den Bezug ergänzender Leistungen nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel ist er bereits mit der Miete in Rückstand geraten. Ohne die Gewährung ergänzender Leistungen nach dem SGB XII ist die Erreichung des Ausbildungsziels ernsthaft gefährdet.

46 Zu bedenken ist zudem, dass der Gesetzgeber durch das Integrationsgesetz vom 7. Juli 2016 in § 60a Abs. 2 AufenthG neue Regelungen zur Duldung von Ausländern in Fällen der Begründung von Ausbildungsverhältnissen eingefügt hat. Nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist eine Duldung wegen dringender persönlicher Gründe im Sinne von Satz 3 zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, die Voraussetzungen nach § 60a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen und konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen. Politisch verfolgt der Gesetzgeber damit das Ziel, die Integration von geduldeten Ausländern stärker zu fördern und gleichzeitig dem Interesse der Wirtschaft an zusätzlichen Fachkräften Rechnung zu tragen (Kluth in: BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch 16. Edition, Stand: 1. November 2017, § 60a AufenthG Rn. 26). Dieses politische Ziel, das ebenfalls in den neu eingefügten Vorschriften §§ 18a, 25a und 25b AufenthG zum Ausdruck kommt, würde konterkariert, wenn der Ausländer die Ausbildung abbrechen müsste, weil er mit der typischerweise geringen Vergütung und einer ggf. gewährten Berufsausbildungsbeihilfe seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Mit einer ähnlichen Begründung hat das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport die Leistungsträger mit Erlass vom 4. Oktober 2017 - 13.3 – 12235-8.4.3 angewiesen, davon auszugehen, dass bedürftige Asylsuchende, die grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG haben, eine Aufenthaltsgestattung besitzen, nicht aus einem sicheren Herkunftsland im Sinne des § 29a Asylgesetz stammen und die auf § 2 AsylbLGLeistungen entsprechend dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII zur Durch- oder Fortführung der Ausbildung angewiesen sind, im Regelfall durch die Anwendung der Härtefallregelung entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII eine Studien-/Ausbildungsfinanzierung ermöglicht werden kann (ähnlich auch das Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten Schleswig-Holstein in einem Erlass vom 10. Mai 2017).

47 Ein Entschließungsermessen ist dem Beklagten nicht eingeräumt. Alle berücksichtigungsfähigen Gesichtspunkte müssen bereits bei der Prüfung des besonderen Härtefalls berücksichtigt werden, sodass keine Gesichtspunkte verbleiben, die bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ein Absehen von der Leistungsgewährung rechtfertigen können (Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 22 Rn. 67; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 22 Rn. 26). [...]