VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 02.11.2017 - 3 A 240/17 - asyl.net: M26023
https://www.asyl.net/rsdb/M26023
Leitsatz:

Die Einziehung zum eritreischen Nationaldienst und drohende Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst und illegaler Ausreise knüpfen nicht ohne weiteres an eine tatsächliche oder zugeschriebene politische Gesinnung an.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Asylrelevanz, Verfolgungsgrund, Militärdienst, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, politische Verfolgung, politische Überzeugung, Wehrdienstverweigerung, Desertion, illegale Ausreise, Haftbedingungen, Diaspora-Steuer, Diaspora-Status, Reueformular,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

Das erkennende Gericht ist aufgrund der derzeitigen Auskunftslage im Hinblick auf den Herkunftsstaat nicht davon überzeugt, dass der Kläger bei Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer flüchtlingsrechtsrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre (zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013, 10 C 23.12). Dem individuellen Sachvortrag ist vorliegend unter Berücksichtigung der Auskunftslage zu Eritrea keine begründete Furcht vor einer solchen Verfolgung zu entnehmen. Entscheidend ist, dass etwaige Verfolgungshandlungen nicht an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 3b Abs. 1 AsylG anknüpfen. [...]

Der hier einzig in Betracht kommende Verfolgungsgrund, eine Verfolgung aufgrund politischer Überzeugung, ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht gegeben. Die illegale Ausreise und Verletzung der Dienstpflicht alleine führt nicht dazu, dass der Kläger eine Verfolgung aufgrund politischer Überzeugung zu befürchten hat. [...]

Den vorliegenden Auskünften (insbesondere: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.11.2016; EASO-Bericht über Herkunftsländerinformationen, November 2016 und Mai 2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schellrecherche vom 22.09.2016, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: "Eritrea" vom 20.02.2017) lässt sich folgendes entnehmen:

Der Nationaldienst ("National Service" gemäß der Übersetzung der Nr. 82/1995) in Eritrea, dauert offiziell 18 Monate, davon 6 Monate Grundausbildung und 12 Monate aktiver Dienst im Militär oder in Entwicklungsarbeiten. Allerdings kann die Dauer der Dienstzeit nach Art. 21 Abs. 1 der Proklamation auf unbestimmte Zeit verlängert werden im Fall eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung. Aufgrund der "no war, no peace"-Situation in Bezug auf Äthiopien seit dem Grenzkonflikt von 1998 werden die Dienstverpflichteten (nach der Proklamation alle 18 bis 40-jährigen) daher generell nach der militärischen Grundausbildung u.a. beim Straßenbau und in verschiedensten Bereichen der staatlichen Verwaltung und Wirtschaft eingesetzt; die Dienstverpflichtung kann somit faktisch über mehrere Jahre andauern. Letztlich baut die eritreische Volkswirtschaft großenteils auf dem Nationaldienst auf. Vor allem wegen der unbestimmten Dauer und der niedrigen Entlohnung - insbesondere im militärischen Teil des Nationaldienstes - , verlassen seit Jahren viele tausend Eritreer das Land. Sofern keine Befreiung oder Entlassung aus dem Nationaldienst erfolgt ist, ist mangels Erteilung eines Ausreisevisums diese "Ausreise" nach der Proklamation Nr. 24/1992 als illegale, strafbewehrte Ausreise eingestuft. Eine Desertion bzw. Dienstpflichtentziehung, aber auch eine Ausreise ohne Ausreiseerlaubnis wird nach der inzwischen etwas milderen Strafpraxis im Falle der Rückkehr in der Regel mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren bestraft (EASO-Bericht, November 2016, S. 19 ff.). Teilweise kommt es nicht zur Bestrafung von Deserteuren oder Dienstverweigerern, da nicht systematisch nach ihnen gefahndet wird. Jugendliche, die bei illegalen Ausreiseversuchen aufgegriffen werden, werden in der Regel verhaftet, meist aber nach Hause geschickt. Die uneinheitliche Praxis erweckt den Eindruck, dass die eritreischen Behörden nicht mehr über die Kapazitäten verfügen, alle Dienstverweigerer systematisch aufzusuchen (LIB BFA Österreich, S. 10). Im Fall der Ergreifung und der Bestrafung wird allerdings mangels eines rechtsstaatlichen Verfahrens willkürlich entschieden, wobei die Entscheidungen z.T. durch Kommandeure getroffen werden. Menschenrechte werden in Eritrea trotz Ratifizierung diverser Menschenrechtsabkommen von staatlichen Organen nicht in ausreichendem Maße respektiert, das zeigt sich auch an generell schlechten Haftbedingungen. Laut Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.11.2016 berichten Menschenrechtsorganisationen, dass die Haftbedingungen zum Teil unmenschlich hart und lebensbedrohlich seien. Zudem sind die hygienischen Zustände und die medizinische Versorgung in den Gefängnissen völlig unzureichend. Es besteht auch keine unabhängige Kontrolle der Haftanstalten. Zahlreiche politische Gefangene (z.B. ehemalige Politiker, Journalisten und praktizierende Angehörige von nicht anerkannten Glaubensgemeinschaften) sind in Eritrea ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren inhaftiert, teilweise seit über 10 Jahren. In vielen Fällen besteht eine incommunicado-Haft.

Andererseits wird - insbesondere durch die sich vor Ort befindlichen internationalen Beobachter in Asmara - berichtet, dass jährlich zahlreiche Eritreer nach Eritrea - zumindest zeitweise - freiwillig zurückkehrten (EASO-Bericht, November 2016, S. 29 ff.). Darunter seien auch Personen, die den Nationaldienst verweigert hätten oder desertiert seien. Solche freiwilligen Rückkehrer müssten nicht grundsätzlich mit einer Verhaftung rechnen. Eine Rückkehr sei insbesondere dann möglich, wenn die Rückkehrer bei einer eritreischen Auslandsvertretung ihren Status regelten, eine "Diasporasteuer" entrichteten und ein Reueformular hinsichtlich der Dienstverweigerung bzw. der illegalen Ausreise unterzeichneten. Eritreer, die sich mindestens drei Jahre im Ausland aufgehalten hätten, könnten im Falle der Rückkehr den privilegierten "Diaspora-Status" erlangen. Diese Optionen würden anscheinend überwiegend Diaspora-Angehörige nutzen, welche zu Urlaubs- und Besuchszwecken nach Eritrea reisen. Unter diesen Reisenden befänden sich offenbar auch Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge (vgl. hierzu EASO-Bericht, November 2016, S. 33; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.11.2016).

Das Auswärtige Amt schließt aus diesen Umständen in seinem Lagebericht vom 21.11.2016 darauf, dass die eritreische Regierung eine ambivalente Haltung gegenüber Flüchtlingen vertrete. Einerseits versuche sie mit drakonischen Maßnahmen (angeblicher Schießbefehl bei Fluchtversuchen, nicht näher bekannte Strafen nach fehlgeschlagenen Fluchtversuchen, Bestrafung von nahen Angehörigen bei erfolgreicher Flucht, Verweigerung von Reisepässen und Ausreisegenehmigungen) zu verhindern, dass Eritreer sich der nationalen Dienstpflicht entzögen. Andererseits scheine die Regierung den Exodus, soweit er sich trotz der drastischen Gegenmaßnahmen nicht verhindern lasse, zu nutzen, um potentielle Regimegegner loszuwerden, die im Lande herrschende Arbeitslosigkeit zu lindern und durch die Erhebung einer zweiprozentigen sogenannten "Aufbausteuer" von den im Ausland lebenden Eritreern Deviseneinnahmen zu erzielen. Geflüchtete Eritreer erhielten im Ausland in der Regel problemlos eritreische Pässe, sofern sie die geforderte "Aufbausteuer" entrichteten.

In Anbetracht dieser Auskunftslage war hier die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu gewähren. Weder unter dem Gesichtspunkt einer drohenden Bestrafung im Zusammenhang mit einer Nichterfüllung der Verpflichtung zum Nationaldienst noch unter dem Gesichtspunkt einer Bestrafung allein wegen illegaler Ausreise liegen die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG vor.

Zunächst begründet die drohende Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea für sich genommen keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da dieser Dienst nach der Proklamation Nr. 82/1995 und auch nach der Praxis in Eritrea allgemein zu leisten ist und in diesem Zusammenhang nicht nach den flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmerkmalen nach § 3 Abs. 1 AsylG differenziert.

Ob die drohenden Bestrafungen wegen Desertion/Dienstverweigerung illegaler Ausreise Verfolgungshandlungen iSd § 3a AsylG darstellen, kann letztlich offen bleiben, da jedenfalls keine Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund iSd § 3b AsylG vorliegt.

Eine Flüchtlingsanerkennung nach § 3 AsylG käme daher nur dann in Betracht, wenn eine in Eritrea drohende Bestrafung an einen der in § 3b AsylG näher geregelten Verfolgungsgründe anknüpfen würde. In Betracht zu ziehen ist nach dem hier zu beurteilenden Vorbringen allein eine Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer - vom Regime unterstellten - politischen Überzeugung im Sinne einer Regimegegnerschaft (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Es spricht bei Betrachtung der Berichte über die Lage in Eritrea und insbesondere über den Umgang mit Rückkehrern und Rückkehrwilligen jedoch Überwiegendes gegen die Annahme einer solchen Gerichtetheit der Strafverfolgung.

Zwar gibt es ältere Berichte, wonach Wehrdienstflüchtige von der Regierung als politische Gegner und Verräter angesehen würden (vgl. dazu die in EASO, November 2016, S. 19 zitierten Berichte), jedoch ist dies mit der aktuellen Lage nicht mehr in Einklang zu bringen. Es war in den letzten Jahren zu beobachten, dass die Ausreise gerade junger Eritreer zum Zwecke der Vermeidung oder Beendung des Nationaldienstes in Eritrea seit einigen Jahren ein Massenphänomen geworden ist (vgl. EASO, November 2016, S. 26), und dass gleichzeitig das Grenzregime moderater und der Umgang mit Rückkehrern milder geworden ist. Dies lässt darauf schließen, dass das Regime in Eritrea solche Auswanderungen nicht generell mit einer Regimegegnerschaft gleichsetzt. Hierfür spricht auch der Umstand, dass eine besonders nachhaltige und flächendeckende Verfolgung bzw. Ausgrenzung von Wehrflüchtigen inzwischen nicht mehr stattzufinden scheint; zahlreiche Dienstverweigerer führen in Eritrea ein normales Leben, sind jedenfalls im Lauf mehrerer Jahre nicht aufgegriffen worden (EASO, November 2016, S. 21). Demgegenüber werden politische Gefangene wie Politiker, Journalisten usw. mit einer Härte inhaftiert, die die unüberschaubare Strafzumessungspraxis bei einfacher Dienstverweigerung oder illegaler Ausreise deutlich übersteigt. Ein solcher "Politmalus" ist - jedenfalls nicht generell - in Fällen wie dem hier vorliegenden gerade nicht zu erkennen. Diese unterschiedliche Behandlung spricht ebenfalls dafür, dass solchen Delikten keine politische Dimension zugeschrieben wird.

Gerade der Umstand, dass geflüchtete Eritreer mit "Diaspora-Status" nach Entrichtung einer "Aufbausteuer" und nach Abgabe eines Reuebekenntnisses unbehelligt nach Eritrea reisen können, spricht gegen die Annahme, das Regime sehe den in Rede stehenden Personenkreis als Regimegegner an. Ein solcher Umgang mit Regimegegnern, deren ernsthafte politische Verfolgung beabsichtigt ist, ist auch in Anbetracht des finanziellen Anreizes nicht nachvollziehbar. Deswegen ist anzunehmen, dass auch die eritreische Regierung den Grund für die massenhaften Fluchtbewegungen vor allem in anderen Umständen (Perspektivlosigkeit, wirtschaftliche Lage usw.) als einer politischen Oppositionshaltung sieht.

Auch unter Berücksichtigung der generell beklagenswerten Menschenrechtssituation bestehen vor diesem Hintergrund für Eritrea keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass eventuelle Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1 AsylG an Verfolgungsgründe im Sinne von § 3b AsylG anknüpfen würden, wie dies § 3a Abs. 3 AsylG für eine Flüchtlingsanerkennung voraussetzt (so z.B. auch VG München, Urteil vom 09.01.2017, M 12 K 16.32740; VG Düsseldorf, Urteil vom 23.03.2017, 6 K 7338/16.A).

Soweit in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung hierzu ein anderer Standpunkt vertreten wird (z.B. VG Schwerin, Urteil vom 20.01.2017, 15 A 3003/16 AS SN; VG Saarland, Urteil vom 17.01.2017, 3 K 2357/16, VG Hamburg, Beschluss vom 05.01.2016, 4 A 3618/16) folgt die Kammer dem aufgrund einer stärkeren Gewichtung der neueren Entwicklung in Eritrea und des staatlichen Umgang mit freiwilligen Rückkehrern nicht. [...]