VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 29.11.2017 - A 12 K 6351/16 - asyl.net: M26022
https://www.asyl.net/rsdb/M26022
Leitsatz:

Der Klägerin droht zwar bei ihrer Rückkehr nach Eritrea eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise und die Einziehung zum Nationaldienst, jedoch knüpft beides nicht an eine tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugung an.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Militärdienst, illegale Ausreise, Asylrelevanz, Verfolgungsgrund, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Diasporasteuer, politische Verfolgung, politische Überzeugung, Asylantrag, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, staatliche Willkür, Desertion,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3 Abs. 2, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Es besteht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG. [...]

b) Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein wird. [...]

aa) Es ist durchaus realistisch, dass der Klägerin als 21-jähriger, die die Schule schon lange abgebrochen hat, bei ihrer Rückkehr die Einziehung zum Militärdienst droht (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Eritrea: National service and illegal exit, October 2016, S. 16 f.). Dafür spricht auch ihre Schilderung, bei ihrem Vater hätten inzwischen schon mehrfach Soldaten nach ihr gefragt. Allerdings stellt die Einziehung zum Militärdienst jedenfalls mangels Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar.

Nach § 3 a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterfällt die Heranziehung zum Militärdienst gerade nicht dem Schutzversprechen. Relevanz im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann die Einberufung zum Wehrdienst nur dann haben, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Zuwiderhandlungen gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen). Hierfür bestehen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keine Anhaltspunkte, auch wenn der Konflikt mit Äthiopien fortbesteht (vgl. Auswärtigen Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 21.11.2016, S. 7; VG Würzburg, Urteil v. 22.05.2017 - W 3 K 16.31747 juris; VG München, Urteil v. 16.03.2017 - M 12 K 16.33084 -, juris). Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass die Einziehung zum Nationaldienst eine relevante Verfolgungshandlung darstellt, da § 3a Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AsylG lediglich nicht abschließende Regelbeispiele nennt und im Militärdienst von einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung der Rekruten auszugehen ist (vgl. VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017 - 28 K 166.17 A juris; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017 - 6 K 7338/16.A juris), fehlt es diesbezüglich jedoch an der Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund durch den eritreischen Staat. Der Nationaldienst betrifft alle erwachsenen Staatsangehörigen Eritreas ohne Ansehen ihrer Person (European Asylum Support Office, EASO-Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, November 2016, S. 36) und knüpft mithin nicht an ein Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an (VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Würzburg, Urteil v. 22.05.2017, a.a.O.; VG Trier, Urteil v. 19.04.2017, 5 K 2564/16.TR; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017, a.a.O.). Es bestehen insofern keine Anhaltspunkte dafür, dass die Einziehung zum Militärdienst nur Oppositionelle trifft und deshalb gezielt an die politische Gesinnung anknüpfen würde.

bb) Es ist zudem von einer realistischen Möglichkeit auszugehen, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Eritrea wegen ihrer illegalen Ausreise bzw. der Umgehung des Nationaldienstes durch diese Ausreise inhaftiert werden würde (vgl. UN- Human Rights Council, Detailed findings of the commission of inquiry on human rights in Eritrea, S. 25 Abs. 98, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, Stand 10.08.2016, S. 28 f., Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 17). Die Bestrafung kann von bloßer Belehrung bis zur Haftstrafe reichen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 17). Auch die Zahlung der Diaspora-Steuer und die Anfertigung eines Reue-Schreibens ändert an dieser Einschätzung wenig, da diese Maßnahmen offiziell lediglich für drei Jahre einen besonderen Status gewähren, der vor Inhaftierung schützen soll (SEM, a.a.O., S. 33 f.).

Je nach den Umständen des Einzelfalls kann eine solche Inhaftierung eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung i.S.d. §§ 3a Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellen (vgl. VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.). Sofern die Inhaftierung aufgrund des Versuchs der Desertion vom Nationaldienst erfolgte, steht, sofern sich das Gericht nicht von einer drohenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung in der Haft überzeugen kann, einer Annahme einer Verfolgungshandlung § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG entgegen (vgl. EuGH, Urt. vom 26.02.2015 - Rs. C-472/13 - juris; VG Würzburg, Urteil v. 22.05.2017, a.a.O.; a.A. VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017, a.a.O.). Jedenfalls scheitert hier das Vorliegen einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung an der fehlenden Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund.

Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine potentielle Inhaftierung der Klägerin wegen der illegalen Ausreise und wegen der daraus resultierenden Umgehung des Militärdienstes an deren politische Überzeugung anknüpft. [...]

2) Es ist nicht erkennbar, dass im Falle des Vorwurfs illegaler Ausreise der eritreische Staat von einer Eigenschaft des Täters als Oppositioneller ausgeht (vgl. Schweizer Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 30.01.2017 - D-7898/2015 -; VG Gießen, Urteil v. 16.08.2017 - 6 K 3536/16.GI.A juris; VG Würzburg, Urteil v. 22.05.2017, a.a.O; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 17.05.2017 - 1a K 1931/16.A. -, juris). Insoweit fehlt es schon an Erkenntnissen über systematisches Vorgehen (vgl. SEM, a.a.O., S. 14; SFH vom 30.06.2017 Eritrea: Nationaldienst; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017, a.a.O.).

Schon deshalb ist nicht nachvollziehbar, wie amnesty international im Report zu Eritrea von 2016 zur gegenteiligen Einschätzung kommt; konkrete Erkenntnisgrundlagen werden dort nicht genannt. Auch in der Stellungnahme von amnesty international vom 15.08.2016 an das VG Schwerin wird die Einschätzung nicht auf aktuelle Erkenntnisse gestützt. Damit wäre überdies die erforderliche Verfolgungsdichte für die Annahme einer Gruppenverfolgung derer, die sich dem Nationaldienst in irgendeiner Form entziehen, nicht feststellbar (vgl. BVerwG, Beschluss v. 02.02.2010 - 10 B 18.09 juris). Soweit einige Verwaltungsgerichte dies anders sehen (vgl. insbesondere VG Hannover, Urt. vom 26.10.2016 - 3 A 5251/16 -, juris; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26.10.2016 - 4 A 1646/16 -, juris), folgt das Gericht dieser Rechtsprechung nicht. Denn es fehlt dort wesentlich an der Angabe konkreter Tatsachen für die unterschiedliche Einschätzung. Dies gilt auch für das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 17.01.2017 (3 K 2357/16), das sich - mittelbar - auf den veralteten Lagebericht vom 15.10.2014 beruft, in dem überdies keine Aussagen über das Vorliegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe gemacht werden. Allein die weitverbreitete staatliche Willkür (vgl. SFH vom 27.07.2017) besagt über das Vorliegen solcher Gründe nichts (a.A. VG Magdeburg, Urteil v. 15.05.2017 - 8 A 175/17 -).

3) Indizien deuten zudem vielmehr darauf hin, dass eine Bestrafung der illegalen Ausreise und insofern auch der Umgehung des Militärdienstes wirtschaftlich begründet ist und der politische Gesinnung des Bestraften keine große Bedeutung beigemessen wird.

Der Nationaldienst hat in Eritrea in den letzten Jahren neben seiner ideologischen Bedeutung stark an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen (VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017, a.a.O.). Die UN-Kommission berichtet, dass der Nationaldienst ungeachtet der 1995 vorgebrachten ideologischen Ziele heute vorrangig dem Zweck diene, die wirtschaftliche Entwicklung des Staates zu beschleunigen, staatsnahe Unternehmen zu begünstigen und Kontrolle über die eritreische Bevölkerung auszuüben (UN Human Rights Council, a.a.O., S. 58 Abs. 234). Da die gesamte Volkswirtschaft Eritreas sowie der eritreische Staatsapparat auf der Wehrdienstverpflichtung fußt, stelle die eritreische Regierung mit der faktisch unbegrenzten Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes die Aufrechterhaltung der staatlichen Funktionsfähigkeit sicher (vgl. VG Trier, Urteil v. 19.04.2017, a.a.O.). Eine Massenauswanderung vor allem junger Menschen im nationaldienstfähigen Alter gefährdet somit die wirtschaftlichen Ziele des Staates Eritrea. Die Verhinderung der vermehrten Ausreise und der daraus folgenden Umgehung des Nationaldienstes dient insofern der Aufrechterhaltung der Herrschaftsstruktur des eritreischen Staates.

Dafür, dass die Bestrafung wegen illegaler Ausreise und der dadurch erfolgenden Entziehung des Wehrdienstes eher aus wirtschaftlichen als aus ideologischen Erwägungen geschieht, spricht auch die Existenz der sogenannten "Diasporasteuer" (VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 17.5.2017, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil v. 23.03.2017, a.a.O.; VG München, Urteil v. 16.03.2017, a.a.O.). Diese Steuer ermöglicht geflüchteten Eritreern nach einem dreijährigen Aufenthalt im Ausland jedenfalls zu Besuchszwecken relativ problemlos Pässe zu erhalten und nach Eritrea ein- und auszureisen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 17; EASO a.a.O., S. 34; UK Home Office, a.a.O., S. 90 f.). Der politischen Überzeugung dieser Deserteure scheint der eritreische Staat dabei keine große Bedeutung beizumessen (vgl. VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Würzburg, Urteil v. 22.05.2017, a.a.O., VG Trier, Urteil v. 19.04.2017, a.a.O.).

cc) Die bloße Asylantragstellung in Deutschland begründet nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr in Eritrea (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 5, 17; VG München, Urteil v. 16.03.2017, a.a.O.; ähnlich UK Home Office, a.a.O., S. 88 f.). Sofern es zu einer Strafe wegen der Stellung eines Asylantrags in Kombination mit illegaler Ausreise und versuchter Desertion bei der Rückkehr kommen sollte, knüpft der eritreische Staat dabei nach der derzeitigen Erkenntnislage nicht an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an (vgl. VG Berlin, Urteil v. 01.09.2017, a.a.O.; VG Trier, Urteil v. 19.04.2017, a.a.O.). [...]