OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06.09.2017 - 2 M 83/17 - asyl.net: M26006
https://www.asyl.net/rsdb/M26006
Leitsatz:

Allein mit der Vorlage ärztlicher und psychologischer Bescheinigungen, die nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechen, können grundsätzlich keine anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG begründet werden.

(Amtlicher Leitsatz, unter Bezug auf OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16 - asyl.net: M24353)

Schlagwörter: psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Posttraumatische Belastungsstörung, Abschiebungshindernis, Attest, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Duldung, Reisefähigkeit,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60a Abs. 2d, GG Art. 2 Abs. 2, VwVfG § 24,
Auszüge:

[...]

Es entspricht ferner der bisherigen Rechtsprechung des Senats, dass die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde, wenn ein Ausländer eine solche Reiseunfähigkeit geltend macht oder sich sonst konkrete Hinweise darauf ergeben, verpflichtet ist, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher oder psychologischer Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehen-den Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. Beschl. d. Senats v. 21.06.2016 – 2 M 16/16 –, juris RdNr. 5).

Bei der Beurteilung der Reisefähigkeit im Rahmen des § 60a Abs. 2 AufenthG sind die Regelungen des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG zu beachten. Nach § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Wird die geltend gemachte Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen soll, nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG belegt, wird die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit nicht widerlegt.

Ist eine die Abschiebung beeinträchtigende Erkrankung nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht und die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit damit nicht widerlegt, kommt eine Aussetzung der Abschiebung in der Regel nicht in Betracht. Eine Ermittlungspflicht der Ausländerbehörde besteht in diesem Fall grundsätzlich nicht (vgl. Beschl. d. Senats v. 21.06.2016 – 2 M 16/16 –, juris RdNr. 21). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Ausländer unverschuldet an der Einholung einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2c AufenthG gehindert war oder anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. [...]

Soweit Letzteres der Fall ist, hat die Ausländerbehörde diese Anhaltspunkte zu berücksichtigen und in Anwendung des § 24 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG LSA eine (erneute) ärztliche Untersuchung anzuordnen, die hinreichenden Aufschluss darüber gibt, ob der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet und diese sich im Fall einer Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Nur wenn der Ausländer einer Anordnung zur Durchführung einer ärztlichen Untersuchung nicht Folge leistet, ist die Behörde gemäß § 60a Abs. 2d Satz 3 AufenthG berechtigt, die vorgetragene Erkrankung nicht zu berücksichtigen, obwohl der Ausländer unverschuldet an der Einholung einer Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG gehindert war oder anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für eine Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG vorliegen.

Nach diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass eine Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1 weder glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich ist und auch kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Die Antragstellerin zu 1 hat die von ihr geltend gemachte psychische Erkrankung, die ihre Abschiebung beeinträchtigen soll, nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG glaubhaft gemacht (dazu 1). Damit ist die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit nicht widerlegt. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass die Antragstellerin zu 1 nicht unverschuldet gehindert war, eine den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG entsprechende Bescheinigung einzuholen (dazu 2) und keine anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG für eine schwere psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 1, die sich durch eine Abschiebung verschlechtern kann, vorliegen (dazu 3). [...]

3. Aus den vorgelegten Attesten und Stellungnahmen, die den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht entsprechen, ergeben sich auch keine anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG. Derartige Atteste können in der Regel nur ergänzend zu anderen Erkenntnissen im Wege einer Gesamtschau zu anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG beitragen (vgl. Beschl. d. Senats v. 30.08.2016 – 2 O 31/16 –, a.a.O. RdNr. 9). Allein mit der Vorlage ärztlicher und psychologischer Bescheinigungen, die nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechen, können grundsätzlich keine anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d AufenthG begründet werden, da andernfalls eine Aushöhlung der gesetzlichen Wertungen des § 60a Abs. 2c AufenthG droht. Es bedarf keiner Vertiefung, ob in Ausnahmefällen auch allein aufgrund von Arztberichten, die den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht genügen, ausreichende Anhaltspunkte i.S.v. § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG vorliegen können, die weitere Ermittlungen veranlassen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 01.06.2017 – 11 S 658/17 –, juris RdNr. 5; Beschl. v. 10.08.2017 – 11 S 1724/17 –, juris RdNr. 30), denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Zwar führt der Amtsarzt des Antragsgegners in seiner Stellungnahme vom 17.01.2017 aus, es sei gesichert, dass bei der Antragstellerin zu 1 eine schwere depressive Erkrankung sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung vorlägen. Auch bestehe bei Durchführung einer Rückführung durch diese Gesundheitsstörung ein hohes Suizidrisiko. Gleichwohl ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass sich hieraus keine anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung i.S.d. § 60a Abs. 2d Satz 2 Auf-enthG ergeben, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Zu Recht hat es bereits die Aussage des Amtsarztes bezweifelt, es sei gesichert, dass bei der Antragstellerin zu 1 eine schwere depressive Erkrankung sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung vorlägen. Zur Begründung hat es ausgeführt, fehl gehe schon die Annahme des Amtsarztes, die Erkrankung der Antragstellerin zu 1 sei aufgrund des Schreibens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlingen vom 13.07.2015 gesichert, denn das Schreiben verhalte sich dazu nicht, sondern stelle nur die Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten im Zielstaat Serbien dar. Die vom Amtsarzt ebenfalls – offenkundig unkritisch – herangezogenen Berichte des Psychosozialen Zentrums für Migrantinnen und Migranten seien mangels Qualifikation i.S.v. § 60a Abs. 2c AufenthG nicht tragfähig. Eigene Befunderhebungen und -auswertungen würden von ihm nicht mitgeteilt. Er ziehe auch keine nachvollziehbaren Schlussfolgerungen hinsichtlich der Ausprägung der Gesundheitsstörung und eines Suizidrisikos. Überdies setze er sich weder mit der Tatsache auseinander, dass die Antragstellerin zu 1 eine stationäre Behandlung verweigert habe, noch vermisse er ein fachärztliches Attest. Er setze sich auch weder mit den seit Jahren erfolgten bisherigen Therapien und deren Erfolg auseinander noch mit der Wirksamkeit und Angemessenheit der Medikation. Mit diesen plausiblen Einwänden gegen das amtsärztliche Attest vom 17.01.2017 haben sich die Antragsteller in ihrer Beschwerde nicht näher auseinandergesetzt.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht weiterhin angenommen, dass sich auch aus dem psychologischen Attest vom 14.03.2017 nichts anderes ergebe. Es sei nicht schlüssig, soweit akute Suizidgedanken festgestellt würden, ohne einen stationären Aufenthalt, den die Antragstellerin zu 1 seit Jahren ablehne, in die Wege zu leiten. Zudem werde auf eine kontinuierliche psychologische und psychiatrische Behandlung verwiesen, die bei dem Facharzt aber lediglich auf pharmakologischer Basis erfolge, ohne dass ersichtlich sei, dass die Medikation nicht angemessen und wirksam eingesetzt werde. Das Attest sei schließlich auch deshalb nicht verwertbar, weil die Psychologin ausdrücklich ausgeführt habe, sie sei bereit, ihre Stellungnahme auf Wunsch zu ändern. Dies lege den Schluss nahe, dass es sich um ein "Gefälligkeitsgutachten" handele. Auch hierauf gehen die Antragsteller in ihrer Beschwerde nicht näher ein.

Hiernach genügen die vorgelegten psychologischen Stellungnahmen, auch in Verbindung mit der amtsärztlichen Stellungnahme vom 17.01.2017, nicht, um nach den im Beschluss des Senats vom 01.12.2014 – 2 M 119/14 – dargestellten Grundsätzen einen Anspruch auf vorläufige Aussetzung der Abschiebung zu begründen. Tatsächliche Anhaltspunkte, die über die vorgelegten Atteste und Stellungnahmen, die letztlich allein auf den Angaben der Antragstellerin zu 1 beruhen, hinausgehen und auf eine Suizidgefahr hindeuten, etwa ein (dokumentierter) Selbstmordversuch, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Gegenteil deuten die vom Antragsgegner in seinem Schreiben vom 06.09.2017 wiedergegebenen Beobachtungen der Ärztin Frau Dr. ..., die bei der Abholung der Antragsteller in ihrer Unterkunft in A-Stadt zugegen war, eher darauf hin, dass der Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1 nicht wesentlich beeinträchtigt ist. Hiernach sei die Antragstellerin von Frau Dr. ... zu ihrem Befinden befragt worden, worauf geantwortet worden sei, dass "alles gut" sei. Die Frage nach der Einnahme oder Notwendigkeit von Medikamenten sei verneint worden. Zudem sei von dem Antragsteller zu 2 darauf hingewiesen worden, dass die Antragstellerin zu 1 schon eine ganze Weile keine Medikamente mehr nehme. Es gehe ihr gut. Frau Dr. ... habe erklärt, dass die Antragstellerin zu 1 nicht dem angegebenen Krankheitsbild entspreche und einen guten Eindruck mache. Der Senat sieht keinen Anlass, die Richtigkeit der in dem Schreiben des Antragsgegners vom 06.09.2017 wiedergegebenen Tatsachen zu bezweifeln. [...]