VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 03.01.2018 - 1 A 77/17 - asyl.net: M25997
https://www.asyl.net/rsdb/M25997
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan für eine Familie mit zwei minderjährigen und drei volljährigen Kindern:

1. Kein Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG. Dass der Vater als Schneider für eine US-amerikanische Securityfirma gearbeitet hat, begründet keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung, da kein asylrelevanter Verfolgungsgrund vorliegt und es sich um keine exponierte Tätigkeit handelt.

2. Ablehnung von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG, da keine gefahrerhöhenden Umstände vorgetragen wurden.

3. Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund der schlechten wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen in Afghanistan.

3. Vom Abschiebungsverbot werden auch die drei volljährigen Kinder erfasst. Aufgrund der Bedeutung von Art. 6 GG kommt eine getrennte Betrachtung der Familienmitglieder nicht in Betracht.

4. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die volljährigen Kinder ihren Lebensunterhalt nicht allein sichern könnten, da sie nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland mit den Verhältnissen in Afghanistan nicht mehr vertraut sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Kinder, minderjährige Kinder, volljährige Kinder, Logar, Kabul, Existenzgrundlage, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Verfolgungshandlung, subsidiärer Schutz, Asylrelevanz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

3. Zugunsten der Kläger besteht aber ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Im Gegensatz zum subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, der das Handeln eines Akteurs voraussetzt, kann nach dieser Norm ein Abschiebeverbot in Ausnahmefällen auch dann vorliegen, wenn die Gefahr bzw. Verletzung aus der allgemeinen humanitären Lage im Herkunftsstaat resultiert (vgl. EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-542/13 -juris, Rn. 35,40; EGMR, Urteil vom 27.05.2008, Rn. 42; BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 -. 10 C 13.12 - juris, Rn. 25; Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 - juns, Rn. 79).

Sind die schlechten humanitären Bedingungen überwiegend auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen, zurückzuführen, liegt eine solcher Ausnahmefall vor, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 - Rn. 278, 282; Bay. VGH, Beschluss vom 30.09.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris, Rn. 5). Führen Handlungen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur, ist ein solcher Ausnahmefall gegeben, wenn es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (EGMR, a.a.O., Rn. 282-283). In beiden Fällen setzt die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. Bay. VGH, a.a.O., juris, Rn. 5).

Ein solcher besonderer Ausnahmefall i.S.d. Rechtsprechung des EGMR liegt im Fall der Abschiebung der Kläger nach Afghanistan vor.

Die allgemeine humanitäre Lage in Afghanistan stellt sich nach den Erkenntnismitteln folgendermaßen dar: [...]

Vor diesem Hintergrund kommt eine Abschiebung der Kläger derzeit nicht in Betracht.

Bei einer Rückkehr müsste der Kläger zu 1) vor dem Hintergrund der für die Klägerin zu 2) herrschenden Frauenrechtssituation wohl allein den Unterhalt für die ganze Familie mit zwei minderjährigen Kindern erwirtschaften. Die drei volljährigen Kinder können zwar auch zum Lebensunterhalt beitragen, allerdings kann auch durch ihre Tätigkeit das Existenzminimum wohl nicht gesichert werden. Es ist davon auszugehen, dass sie durch Gelegenheitsarbeiten lediglich ihren eigenen Unterhalt finanzieren können. Der Kläger zu 1) würde zur Erwirtschaftung des gesamten Lebensunterhalts nicht im Stande sein, zumal auch keine Rücklagen mehr existieren. Es entspricht gerichtlicher Erkenntnis, dass Familien für eine Ausreise nach Europa nahezu ihr gesamtes Vermögen zur Bezahlung der Schleuser einzusetzen haben. Die Kläger haben auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, ihr Haus verkauft zu haben.

Auch bezüglich der drei volljährigen Kinder besteht ein nationales Abschiebungsverbot. Aufgrund der Bedeutung des Schutzes der Familie in der deutschen Rechtsprechung (Art. 6 GG) kommt eine getrennte Betrachtung der einzelnen Familienmitglieder hier nicht in Betracht. Hinzu kommt schließlich, dass sie alle inzwischen schon seit fast drei Jahren nicht mehr in Afghanistan leben und mit den aktuellen Umständen vor Ort nicht mehr vertraut sind. Zudem mussten die volljährigen Kinder sich in Afghanistan bisher nicht allein ihre eigene Existenz sichern, sondern sie lebten bei ihren Eltern. Bei der alleinigen Rückkehr der volljährigen Kinder könnten diese jedoch nicht einmal auf deren Unterstützung setzen.

Bei einer Gesamtbetrachtung und in Anbetracht der noch versorgungsbedürftigen Kinder im Alter von 16 und 13 Jahren, besteht nach Auffassung des erkennenden Gerichts ein sehr hohes Risiko, dass sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihre elementarsten Grundbedürfnisse in Hinblick auf Ernährung, Unterkunft und Beschäftigung nicht befriedigen können und daher schwerwiegenden Gefahren für Leib und Leben in Folge von Verelendung - mithin einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK - ausgesetzt wären. [...]