VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 13.02.2018 - 7 A 119/18 - asyl.net: M25937
https://www.asyl.net/rsdb/M25937
Leitsatz:

[Zur Verfolgung Homosexueller in Marokko:]

Derzeit noch kann Homosexualität eines Marokkaners grundsätzlich die Zuerkennung der Flüchtlings­eigenschaft erfordern (hier verneint), auch wenn in Marokko die Häufigkeit von Bestrafungen Homosexueller und/oder von Übergriffen ihnen gegenüber bereits abgenommen hat und Liberalisierungstendenzen erkennbar sind.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Marokko, homosexuell, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, interne Fluchtalternative, Strafbarkeit, Schutzbereitschaft, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

219 Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung nach § 3 Abs. 1 AsylG bei homosexuellen Marokkanern grundsätzlich (unbeschadet der Prüfung des Einzelfalls) erfüllt sein. 220 So heißt es in o.a. Lagebericht wörtlich hinsichtlich der Frage der Homosexualität unter dem Punkt 1.8.2:

221,222 "1.8.2 Situation für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTTI)

223 LGBTTI-Orientierung oder -Identität wird vom marokkanischen Staat nicht anerkannt. Die sexuelle Selbstbestimmung wird durch das generelle Verbot außerehelicher einvernehmlicher sexueller Beziehungen sowie durch die generelle Kriminalisierung der Homosexualität stark eingeschränkt.

224 Homosexualität muss im Verborgenen gelebt werden. Offen gelebte Homosexualität wird gesellschaftlich nicht toleriert. Art. 489 stellt homosexuelle Handlungen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe (Haftstrafen von 6 Monate bis 3 Jahren, Geldstrafen von 200 bis 1000 Dirham). Im Rahmen der Strafrechtsreform wurde diskutiert, die Strafbarkeit homosexueller Handlungen abzuschaffen, dies wird jedoch von der PJD und von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Wie außerehelicher Geschlechtsverkehr wird auch Homosexualität, die im Verborgenen gelebt wird, nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt, in der Regel auf Anzeige von Familien oder Nachbarn.

225 Im Bereich Homosexualität gibt es keine offen und legal agierenden zivilgesellschaftlichen Initiativen. Eine bekannte, aber nicht als NRO registrierte Initiative ist "Aswat".

226 Im April 2016 erregte der Fall eines homosexuellen Paares in Beni Mellal großes Aufsehen. Die Männer wurden zu vier Monaten Haft bzw. einer Bewährungsstrafe wegen homosexueller Handlungen verurteilt, nachdem sie von selbst ernannten Sittenwächtern in ihrem Haus zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben wurden. Zwei der fünf Angreifer wurden nach Revision ebenfalls zu vier und sechs Monaten Haft verurteilt."

227 Es ist in der Rechtsprechung inzwischen anerkannt, dass in Fällen der Homosexualität die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dem Grunde nach in Betracht kommen kann (vgl. statt vieler: Urteile des Verwaltungsgerichtes Hamburg vom 10. August 2017 – 2 A 7784/16 -, und des Verwaltungsgerichtes Köln vom 14. Juli 2017 – 3 K 1080/16.A –, jew. juris und mit weiteren Nachweisen).

228 Das Gericht folgt nicht den insoweit veralteten Gründen des angegriffenen Bescheides.

229 Homosexuelle gehören grundsätzlich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu einer sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Grundsätzlich – abgesehen von Fragen des Einzelfalls – kann ihr (der Gruppe der homosexuell Orientierten) in Marokko Verfolgung drohen (Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -, Vnb., mwN.).

230 Homosexuelle bilden in Marokko idR eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale, oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen Art. 10 Abs. 1 lit. d Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU (und auch Qualifikationsrichtlinie a.F. - 2004 -) Nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Vierte Kammer, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris) ist Art. 10 Abs. 1 lit. d Qualifikationsrichtlinie a.F. (Richtlinie 2004/83/EG) dahin auszulegen, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlaubt, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind. Zwar stelle allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 lit. c Qualifikationsrichtlinie a.F. dar (vgl. auch §§ 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3 AsylG). Seien hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafe bedroht und würden im Herkunftsland, das eine entsprechende strafrechtliche Regelung erlassen hat, diese Strafen auch tatsächlich verhängt, so sei dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stelle somit eine Verfolgungshandlung dar. Nicht beanstandet hat der EuGH allerdings die Regelung, dass vom Geltungsbereich der Richtlinie die homosexuellen Handlungen ausgeschlossen sind, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten strafbar sind (vgl. z.B. pädophile Straftaten). Andererseits können bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen nationalen Behörden nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -).

231 Ausgehend davon, dass die Homosexualität als eine für die Identität einer Person ein so bedeutsames Merkmal darstellt, dass sie nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden soll, erlaubt ferner das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen in Marokko, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Nach den vorliegenden Erkenntnissen stehen homosexuelle Handlungen in Marokko unter Strafandrohung. Gemäß Art. 489 des Marokkanischen Strafgesetzbuches vom 26. November 1962 wird jede Person, die "schamlose oder widernatürliche" Handlungen mit einer Person des gleichen Geschlechts vollzieht, mit einer Haftstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren und einer Geldstrafe von 120 bis 1000 Dirham bestraft, es sei denn, es kommen erschwerende Umstände hinzu (Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 - dort z.B. Auskunft von amnesty international an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 1. April 2015 und Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko mit Stand Dezember 2015, S. 13, sowie Schweizer Flüchtlingshilfe, Auskunft Marokko, Homosexualität, S. 1).

232 Gemessen an den im o.a. Urteil des EuGH aufgestellten Maßstäben, drohte jedenfalls in der Vergangenheit einem Homosexuellen in Marokko dem Grunde nach staatliche Verfolgung. Art. 489 des Marokkanischen Strafgesetzbuches wurde in der Praxis angewendet und führte auch zu Verurteilungen (Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -). So wurden im Mai 2015 drei Männer zu je drei Jahren Haft, dem Maximalstrafmaß verurteilt. Zwei der drei Männer wurde der Vollzug homosexueller Handlungen vorgeworfen, der Dritte musste sich wegen Prostitution vor Gericht verantworten, da ihm vorgeworfen wurde, den Kontakt zwischen den beiden anderen Männern hergestellt zu haben (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko Stand: Dezember 2015 S. 13, Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -). Im Dezember 2014 wurden zwei Männer in Hoceima in einem beschleunigten Verfahren nach Art. 489 des Marokkanischen Gesetzbuches verurteilt, nachdem sie bei einer Polizeikontrolle im Dezember 2014 durch Sprechweise und Bewegung als homosexuell auffielen. Beide Männer gaben später zu, sexuelle Handlungen mit gleichgeschlechtlichen Partnern vollzogen zu haben (Auskunft amnesty international ans Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 1. April 2015, S. 2, zit. nach: Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -). Im Herbst 2014 wurden in Marrakesch ein britischer Tourist und dessen marokkanischer Freund festgenommen und, weil "homosexuelle Bilder" auf dem Mobiltelefon des Touristen gefunden wurden, zu vier Monaten Haft verurteilt (Schweizer Flüchtlingshilfe Auskunft Marokko Homosexualität, S. 2 f; BBC News Gay Briton Ray Cole released from Moroccan jail vom 7. Oktober 2014, www.bbc.com/news/uk-england-29530341, Aufruf am 24. Februar 2016, Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 - . Im April 2014 wurden sechs Männer in der Kleinstadt Fqih Bensalah verhaftet und am 12. Mai 2014 wegen homosexueller Handlungen, Prostitution, Betrunkenheit in der Öffentlichkeit und Fahren unter Alkoholeinfluss verurteilt (Schweizer Flüchtlingshilfe Auskunft Marokko Homosexualität, S. 2). Auch in den Jahren 2013 und 2007 hatte es offenbar Verurteilungen wegen Homosexualität gegeben (Auskunft amnesty international ans Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 1. April 2015 S. 2 f.), vgl. zum Ganzen Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -. Inzwischen berichtet das Auswärtige Amt allerdings nur noch vom o.a. Einzelfall aus April 2016 und zudem von Liberalisierungstendenzen (Lagebericht 2017, aaO., S. 16), so dass die Fortentwicklung in Marokko abzuwarten bleibt.

233 Wenn einem Mann wegen seiner Homosexualität in Marokko eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG droht, wird ihm von dem marokkanischen Staat ausreichend Schutz i.S.v. von 3d AsylG in der Regel nicht geboten. Es ist allerdings grundsätzlich nicht davon auszugehen, dass dem Betroffenen ausreichender staatlicher Schutz zur Verfügung steht, da angesichts der Tatsache, dass Homosexualität per Gesetz kriminalisiert ist, nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich Opfer von homosexueller Gewalt an die Behörden wenden könnten (so amnesty international Auskunft an VG Düsseldorf vom 1. April 2015 S. 3., Schweizer Flüchtlingshilfe Auskunft Marokko Homosexualität, S. 7, Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -). Insoweit kommt es mithin einzelfallweise darauf an, ob der Betroffene bereits vorverfolgt bzw. von einer Verfolgung unmittelbar bedroht i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU war (s.o.).

234 Schließlich stehen bzw. standen jedenfalls in der Vergangenheit innerstaatliche Fluchtalternativen gemäß § 3e AsylG nicht zur Verfügung. So kam es in den vergangenen Jahren in verschiedenen Landesteilen Marokkos zu Verhaftungen und Verurteilungen wegen homosexuellen Handlungen oder Homosexualität (s.o.). Auch waren die Handlungen der lokalen Polizei in Marrakesch gegenüber jungen marokkanischen Männern, die mit Touristen zusammen sind, oft nicht berechenbar (Schweizer Flüchtlingshilfe Auskunft Marokko Homosexualität, S. 3; Gay Times Magazine, Morocco Bound, März 2008). Es ist deshalb davon auszugehen, dass in Marrakesch lebende Marokkaner, die nicht mit Touristen zusammen sind, erst recht unberechenbare Handlungen der Polizei zu befürchten haben könnten (Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 24. Februar 2016 - 1 A 4022/14 -). [...]