VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Beschluss vom 31.01.2018 - 2 E 22225/17 Me - asyl.net: M25925
https://www.asyl.net/rsdb/M25925
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für eine dreiköpfige syrische Familie gegen Überstellung nach Griechenland:

1. Die in Griechenland herrschenden Zustände für Asylsuchende erfordern eine individuelle Garantieerklärung der griechischen Behörden, dass die überstellten Personen entsprechend den Vorgaben der Aufnahmerichtlinie untergebracht werden.

2. Eine lediglich (pauschal) erteilte Zusage der griechischen Behörden, die nur auf die Asylverfahrensrichtlinie Bezug nimmt, nicht jedoch eine individuelle Garantieerklärung auf eine richtlinienkonforme Unterbringung enthält, obwohl das BAMF dies ausdrücklich erbeten hatte, entspricht diesen Anforderungen nicht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungsanordnung, Aufnahmebedingungen, besonders Schutzbedürftige, Garantieerklärung, Kinder, Selbsteintritt, Überstellung, Zusicherung, Griechenland,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2. VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller dürften aber einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung haben. Es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Griechenland systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden. Die insoweit grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbotes hinreichend beachtet, ist aber nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung der Vermutung ist zwar wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die EU-Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Vielmehr müssen das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im jeweiligen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelmäßig so defizitär sein, dass Antragstellern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht (systemische Mängel).

Es spricht in Bezug auf Griechenland aufgrund der vorliegenden, allgemein zugänglichen Erkenntnisse derzeit Überwegendes dafür, dass Asylverfahren und Aufnahmebedingungen auch aktuell systemische Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung aufweisen (VG Dresden, Beschl. v. 16.11.2017 - 16 L 1187/17.A, juris, Rn. 20; VG Düsseldorf, Beschl. v. 26.10.2017 - 12 L 4 91/17.A, juris, Rn. 13; VG Cottbus, Beschl. v. 05.10.2017, 5 L 579./17.A, juris, Rn. 16). Seit 2011 durften Überstellungen von Asylbewerbern auf der Grundlage der Dublin III-Verordnung nach Griechenland wegen systemischer Mängel im griechischen Asylsystem nicht mehr erfolgen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09 -, M.S.S. ./. Bulgarien und Griechenland, NVwZ 2011, 413; BVerfG, Beschl. v. 08.05.2017 - 2 BvR 157/17 -, juris, Rn. 22). Zwar hat dir Bundesregierung mit Wirkung ab dem 15. März 2017 ihre bisherige Nichtüberführungspraxis nach Griechenland auf Empfehlung der Europäischen Kommission vom 8. Dezember 2016 wieder aufgegeben. Wurden aber bis vor kurzer Zeit die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Griechenland noch als unmenschliche und erniedrigende Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i. V.m. Art. 3 EMRK eingestuft, so bedarf die nunmehr gegenteilige Annahme einer hinreichend verlässlichen, auf Tatsachen gestützten Grundlage, die denn Schluss zulässt, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zwischenzeitlich nachhaltig geändert haben. Derartige belastbare Erkenntnisse liegen gegenwärtig nicht vor (VG Dresden, Beschl. v. 16.11.2017, 6 L 1187/17.A. juris, Rn. 22 m.w.N.). Es ist nicht ersichtlich, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Griechenland nunmehr behoben wären (VG Düsseldorf, Beschl. v. 20.07.2017, 12 L 918/17.A, juris, Rn. 19). So hat das Verwaltungsgericht Dresden in seinem Beschluss vom 16.11.2017, 6 L 1187/17.A, juris, Rn. 23) ausgeführt:

"Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der Empfehlung der Kommission vom 8. Dezember 2016. In dem Bericht sind zwar Verbesserungen - auch der humanitären Standards - für die Dauer des griechischen Asylverfahrens zu entnehmen. Aus den von der Kommission empfohlenen zahlreichen Maßnahmen zur Verbesserung des griechischen Asylsystems wird jedoch auch weiter deutlich, dass die Aufnahmebedingungen, insbesondere die Unterbringung, aber auch die Sicherheit Schutzsuchender unzureichend ist. Die Hotspot-Einrichtungen sind überfüllt und erfüllen, was die Bedingungen der Sanitär- und Hygieneanlagen und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung insbesondere für schutzbedürftige Gruppen betrifft, nicht den Standard. Die ausgereizten Aufnahmekapazitäten stellen eine beträchtliche Herausforderung dar. Der Großteil der Aufnahmeeinrichtungen setzt sich aus Behelfsunterkünften und vorübergehenden Einrichtungen mit oft unzureichenden materiellen als auch sicherheitstechnischen Standards zusammen. Nur einige der Einrichtungen sind winterfest. Organisation und Aufnahme in Griechenland sind unzureichend koordiniert, da es an einem klaren Rechtsrahmen und Überwachungssystem fehlt und einige Camps vom Ministerium und andere vom Aufnahme- und Identifizierungsdienst nur ad hoc verwaltet werden. Der griechische Asyldienst ist dabei, seine Kapazitäten von derzeit 487 Personen aufzustocken. Es ist jedoch nicht klar, ob die fokussierte Personalaufstockung ausreicht, um das gegenwärtige und künftige Fallaufkommen adäquat und fristgerecht bewältigen zu können. Diese Einschätzung wird von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, wonach die Aufnahmebedingungen in Griechenland insgesamt weiterhin als sehr prekär anzusehen seien und Tausende auf den Inseln verharren, geteilt. Auch auf dem Festland reiche die Anzahl an Unterbringungsplätzen bei weitem nicht aus (vgl. www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/dublin-staaten/griechenland.html). Aufgrund dieser Tatsachen und Informationen bestehen ernstliche Zweifel an den jetzigen Kapazitäten des griechischen Asylsystems. Danach kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht wird."

Die Antragsteller können auch trotz der von Griechenland gegebenen Zusicherung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für sich geltend machen. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung erfordert das Vorliegen einer dem Betroffenen konkret und individuell drohenden Gefahr, die sich nicht bloß in der Feststellung des Bestehens systemischer Mängel im Aufnahmestaat erschöpfen darf. Aus der den systemischen Mängeln immanenten abstrakten Gefährdung muss dem Asylsuchenden überdies im Einzelfall die individuelle Gefahr eines Schadenseintritts drohen. Art. 3 EMRK ist demnach nur dann verletzt, wenn die deutschen Behörden die Antragsteller ohne Berücksichtigung ihrer besonderen Lage und ohne vorherige individuelle Zusicherung der griechischen Behörden nach Griechenland überstellen und sie damit den dort herrschenden mangelhaften Aufnahmebedingungen aussetzen würden (vgl. VG Dresden, Beschl. v. 16.11.2017, 6 L 1187/17.A, juris Rn. 24).

Zwar heißt es in dem angefochtenen Bescheid (S. 2), Griechenland habe mit Schreiben vom 16.09.2017 eine Zusicherung abgegeben, dass die Antragsteller entsprechend den Normen der Richtlinie 2014/33/EU untergebracht und ihre Anträge nach Maßgabe der Richtlinie 2013/32/EU bearbeitet würden. Man mag das Schreiben vom 16.09.2017 so verstehen können. Ausdrücklich haben die griechischen Behörden eine entsprechende Zusicherung aber nicht abgegeben. Im Schreiben vom 16.09.2017 heißt es, "Concerning the assurances you requested from the Greek authorities, the above mentioned persons will be accommodated in a reception facility. the details of which will be conveyed as soon as you inform us about the transfer details. Regarding access to the asylum procedure in accordance with the asylum procedure directive (2013/32/EU), the persons in question will be notified upon arrival by the airport competent Police authorities, with the help of an interpreter, about the procedure (i.e. time limit for lodging an application for international protection, address and working hours of the respective Asylum Office). The current duration of asylum procedure at first instance is on average six months." Nur die Asylverfahrensrichtlinie 20013/32/EU ist hier ausdrücklich genannt. Das Bundesamt hatte aber mit Schreiben vom 17.07.2017 auch angefragt, ob die Antragsteller entsprechend den Standards des EU-Rechts behandelt werden und insbesondere, ob die Familie entsprechend der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht wird. Hierzu heißt es seitens der griechischen Behörden nur, dass die Antragsteller in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht würden. Die Aufnahmerichtlinie und die Standards des EU-Rechts werden nicht genannt. Dies wäre aber nötig gewesen im Hinblick auf die - bereits erwähnten - Erkenntnisse darüber, dass die Aufnahmebedingungen, insbesondere die Unterbringung, aber auch die Sicherheit Schutzsuchender unzureichend ist. Damit ist seitens der griechischen Behörden nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht worden, dass die Aufnahme der Antragsteller der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (hier insbesondere Art. 18 und 19) entsprechen wird. Ob das Schreiben der griechischen Behörden im Sinne einer verlässlichen konkreten und einzelfallbezogenen Zusicherung ausreichend ist, erscheint deshalb zweifelhaft. [...]