OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 18.01.2018 - 2 A 287/17 - asyl.net: M25910
https://www.asyl.net/rsdb/M25910
Leitsatz:

[Flüchtlingsanerkennung für einen Drusen aus Syrien:]

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, die mit der Rechtsprechung zahlreicher anderer deutscher Obergerichte übereinstimmt, droht Personen aus Syrien nicht bereits wegen der Ausreise aus dem Heimatland, der Asylantragstellung und des Aufenthalts im Ausland bei – unterstellter – Rückkehr eine politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG.

2. Einzelfall der Flüchtlingsanerkennung eines drusischen Religionszugehörigen aus Syrien wegen erlittener individueller politischer Vorverfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur (Al-Nusra-Front).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Drusen, Al Nusra-Front, nichtstaatliche Verfolgung, illegale Ausreise, Gruppenverfolgung, Asylantrag, politische Verfolgung, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit, religiöse Verfolgung, Vorverfolgung, Flüchtlingseigenschaft, Berufung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3c Nr. 2, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3d,
Auszüge:

[...]

Der Anspruch des Klägers auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich indes entgegen der dem erstinstanzlichen Urteil zugrunde liegenden Rechtsauffassung nicht ungeachtet des Einzelfalls bereits aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats [...], die mit der Rechtsprechung zahlreicher anderer deutscher Obergerichte übereinstimmt [...], droht Personen aus Syrien nicht bereits wegen der Ausreise aus dem Heimatland, der Asylantragstellung und des Aufenthalts im Ausland bei – unterstellter – Rückkehr eine politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG. [...]

Im vorliegenden Einzelfall ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht unverfolgt ausgereist ist, sondern vielmehr unmittelbar vor seiner Ausreise aus Syrien individuelle politische Vorverfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur im Sinne des § 3c Nr. 2 bzw. Nr. 3 AsylG erlitten hat. Der Kläger, ein drusischer Religionszugehöriger, ist nach seinen insoweit übereinstimmenden Angaben bei der Bundesamtsanhörung und in der mündlichen Verhandlung während seiner Flucht aus Syrien Mitte Juni 2016 auf der Fahrt mit dem Bus von seinem Heimatort Al S im Drusengebirge nach Afrin an einer Kontrollstelle der Al-Nusra-Front aus dem Bus geholt und aufgrund seines Ausweises als Druse identifiziert worden, woraufhin ihm sein Ausweis abgenommen und dieser zerrissen wurde; der Absicht, ihn als in den Augen der Angehörigen der islamistischen Al-Nusra-Front "Ungläubigen" mitzunehmen – für diesen Fall befürchtete der Kläger seine Tötung –, konnte er sich nur mit Hilfe eines mitreisenden kurdisch-muslimischen Freundes sowie erheblicher Bestechungsleistungen in Gestalt der Zurücklassung sämtlicher Wertsachen entziehen. [...] Danach ist davon auszugehen, dass Angehörige der kleinen drusischen Minderheit in Syrien, die von strenggläubigen Sunniten als Häretiker ("Ungläubige") angesehen werden, insbesondere in den Jahren 2015/2016 teilweise Opfer von Verfolgungshandlungen vorrückender islamistischer Kampfverbände, namentlich der Al-Nusra-Front (nunmehr: Jabhat Fatah al-Sham) (vgl. dazu etwa www.wikipedia.de (Suchwort: al-Nusra-Front)), geworden sind. So wird für den fraglichen Zeitraum von einem von Al-Nusra-Milizionären verübten Massaker in einem nordsyrischen drusischen Dorf sowie von Entführungen und Bomben- und Selbstmordattentaten auf Drusen, auch in dem christlich-drusischen Damaszener Vorort Jaramana, ebenso berichtet wie von auf das im Südwesten Syriens in der Provinz as-Suweida liegende Drusengebirge (Jabal al-Druz), die Heimat des Klägers, bzw. regionale Militärbasen vorrückenden dschihadistischen Rebellen und von dramatischen Hilfsappellen drusischer Würdenträger an die internationale Gemeinschaft (vgl. BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 31, unter Bezug auf das USDOS (United States Department of State); Spiegel online, 17.6.2015, Syriens Drusen geraten zwischen die Fronten ("Drusische Würdenträger warnten … vor einem drusischen Holocaust"); Süddeutsche Zeitung vom 17.6.2015, Seite 8, Schutzlos in den Wirren des Krieges ("drusische Kristallnacht"); vgl. auch BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), Syrien, Aktuelle Situation der Christen, Juni 2013, Seite 20; J. Schwarz, Subsidiäre Flüchtlingspolitik, Asylmagazin 4/2017, Seite 147 ("… Drusen berichteten uns von systematischen Diskriminierungen und Verfolgungshandlungen"); vgl. insoweit auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26, wonach u.a. Drusen ein (erhöhtes) Risikoprofil aufweisen; zur historischen und demographischen Situation der Drusen in Syrien vgl. im Übrigen K. Lange, Syrien: Ein historischer Überblick, und S. Said, Gesellschaftliche und sozioökonomische Entwicklung Syriens, beide APuZ 8/2013 vom 18.2.2013, S. 37 f. bzw. S. 49 ff.). In diesen Hintergrund fügt sich der in Rede stehende individuelle Vortrag des Klägers zwanglos ein, und zwar auch hinsichtlich authentisch erscheinender Details. Der vorgetragene Übergriff stellt zudem eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG dar. Das ergibt sich schon daraus, dass die geschilderten Handlungen für den Kläger in der konkret geschilderten Situation mit Gefahren für Leib und Leben verbunden waren [...], auch wenn sich diese Gefahren für ihn aufgrund glücklicher Umstände letztlich nicht realisiert haben. [...]

Aus den angeführten Auskünften [...] ergibt sich ohne weiteres, dass Drusen von strenggläubigen Sunniten, zu denen auch die Angehörigen der dschihadistischen Al-Nusra-Front zu rechnen sind, als Häretiker und Ungläubige betrachtet und behandelt werden, so dass das vorgetragene Motiv der Verfolgungshandlung logisch konsistent erscheint und der Kläger als Träger des Religionsmerkmals persönliche Verfolgung erlitten hat.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem bereits in der mündlichen Verhandlung erörterten Vortrag der Beklagten (undatierter Schriftsatz, Eingang bei Gericht am 18.1.2018). Zwar ist dort zutreffend ausgeführt, dass allein die drusische Glaubenszugehörigkeit des Klägers keine Flüchtlingsanerkennung rechtfertigt; das entspräche so auch nicht der ständigen Rechtsprechung des Senats, die eine Gruppenverfolgung ethnischer oder religiöser Minderheiten in Syrien nicht annimmt [...]. Doch darum geht es hier nicht. Vorliegend ist vielmehr lediglich von einer in einem besonders gelagerten Einzelfall erlittenen individuellen Vorverfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur auszugehen, auch wenn diese im Einzelfall in ihrer konkreten Gerichtetheit an die drusische Religionszugehörigkeit des Klägers angeknüpft hat. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann hier ferner nicht aus dem Verbleib der Großfamilie des Klägers in Syrien auf das Fehlen einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung des Klägers geschlossen werden, nachdem sich dessen Vorverfolgung gerade aus seinem bei seiner alleinigen Flucht persönlich erlebten Geschehen ergibt. Im Übrigen hat der Kläger bereits im Rahmen seiner Bundesamtsanhörung die Gründe für den Verbleib seiner Angehörigen im Heimatland offen und überzeugend erläutert. [...]

Insbesondere muss im Sinne des § 3c Nr. 3 Halbs. 2 AsylG angenommen werden, dass die in § 3 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG genannten Akteure in Syrien einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, dem Kläger im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Im syrischen Bürgerkrieg konnte der Kläger weder im Zeitpunkt seiner Ausreise derartigen Schutz hinreichend zuverlässig erlangen, noch wäre ihm dies im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung möglich [...]. In den von der Opposition, namentlich deren islamistischen Kräften, beherrschten Landesteilen drohte und droht dem Kläger unmittelbare Gefahr durch die jeweils herrschenden Oppositionsgruppen. Das Assad-Regime als zentrale Staatsmacht hat zwar die Gebietshoheit über weite Teile des Landes im Wesentlichen wiedergewonnen. In den Landesteilen Syriens, in denen die Gebietshoheit des syrischen Regimes noch bzw. wieder besteht, herrscht jedoch keine Situation vor, in welcher staatliche, oppositionelle oder internationale Organisationen als Akteure im Sinne des § 3d Abs. 1 AsylG in der Lage oder willens wären, dem Kläger wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz vor Verfolgung im Sinne des Absatzes 2 der Vorschrift zu bieten. [...]