OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.11.2017 - 8 ME 113/17 - asyl.net: M25896
https://www.asyl.net/rsdb/M25896
Leitsatz:

Bei der Ausweisung eines Ausländers, der im familiengerichtlichen Verfahren eine Regelung des Umgangs mit seinen Kindern erstrebt, begründet der Wunsch, während der Dauer dieses Verfahrens im Bundesgebiet zu bleiben, kein im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigendes Bleibeinteresse. Ist der vorüber­gehende Aufenthalt im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK zu ermöglichen, so kann dies zur Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bzw. zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Ausweisung führen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, Umgangsrecht, familiengerichtliches Verfahren, Suspensiveffekt, Bleibeinteresse, Vollzugsinteresse, Aussetzungsinteresse, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Duldung, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: AufenthG § § 53 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3,
Auszüge:

[...]

11 Die Beteiligung des Antragstellers im familiengerichtlichen Verfahren über den Umgang mit seinen Kindern und die etwaige Notwendigkeit, ihn im Rahmen der Erstattung des in diesem Verfahren einzuholenden Gutachtens zu explorieren, begründen als bloß vorübergehende Gesichtspunkte kein Bleibeinteresse i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG. Sie können zwar dem Vollzug der Ausweisung zeitweilig entgegenstehen (s.u. 2.), berühren deren Rechtmäßigkeit aber nicht.

12 Mit der Ausweisung wird darüber entschieden, ob der Aufenthalt des betroffenen Ausländers zu beenden und ihm die Wiedereinreise innerhalb der mit der Ausweisung verbundenen Sperrfrist zu versagen ist. Der Entscheidung liegt eine Abwägung des Interesses an der Aufenthaltsbeendigung an sich mit dem Bleibeinteresse an sich zugrunde. Nur solche Bleibeinteressen spricht § 53 Abs. 2 AufenthG an. Interessen, denen dadurch Rechnung getragen werden kann, dass die Aufenthaltsbeendigung nicht sogleich, sondern einige Wochen oder wenige Monate später erfolgt, sind hingegen nicht geeignet, die Gewichtung der für und gegen die Ausweisung sprechenden Belange zu verschieben.

13 Ein Interesse von bloß kurzer, vorübergehender Dauer ist das Interesse, während des familiengerichtlichen Verfahrens über den Umgang im Bundesgebiet anwesend zu sein. Ihm kann, wenn die entgegenstehenden Belange nicht überwiegen, gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG durch eine Duldung Rechnung getragen werden. Die Vorschrift betrifft Fälle, in denen dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen die vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Erst wenn im Anschluss an die familiengerichtliche Entscheidung Umgangskontakte tatsächlich aufgenommen worden sind und deswegen das auf die familiäre Lebensgemeinschaft bezogene Bleibeinteresse neu zu bewerten ist, kann sich dies auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung in diesem späteren Zeitpunkt auswirken.

14 2. Das Vollzugsinteresse wiegt schwerer als das Aussetzungsinteresse. Bei der im Rahmen der Prüfung des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Abwägung dieser Interessen ist auch das vorübergehende Interesse des Antragstellers zu berücksichtigen, während des familiengerichtlichen Verfahrens über den Umgang im Bundesgebiet anwesend zu sein und falls erforderlich im Rahmen der Anfertigung des dort einzuholenden Gutachtens exploriert zu werden. Sofern dieses Interesse einer Aufenthaltsbeendigung zeitweilig entgegensteht, kann dies auch das Aussetzungsinteresse erhöhen. Vorliegend ist das jedoch nicht der Fall, weil die Verhinderung weiterer Straftaten auch in dem vorübergehenden Zeitraum des Umgangsverfahrens höheres Gewicht hat.

15 Der Aufenthaltszweck der Teilnahme an einem familiengerichtlichen Verfahren ist zwar im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK von zu beachtender Bedeutung (OVG Saarland, Beschl. v. 5.3.2001 - 9 W 7/00 -, juris Rn. 41). Insbesondere kann es Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzen, wenn gerade die Aufenthaltsbeendigung dazu führt, dass die gerichtliche Prüfung der Einräumung eines Umgangsrechts zunichte gemacht wird (vgl. EGMR, Urt. v. 11.7.2000 - 29192/95 -, NVwZ 2001, 547, 548). Auch wenn das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die aus der Aufenthaltsbeendigung folgende Unmöglichkeit, am Umgangsverfahren persönlich teilzunehmen, betroffen ist, bedarf es aber der Prüfung, ob die Maßnahme gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist. Das ist hier der Fall. Die Durchsetzung der Ausweisung ist zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Rechte und Freiheiten anderer notwendig, d.h. verhältnismäßig. Von dem Antragsteller geht eine erhebliche Wiederholungsgefahr in Bezug auf Eigentums- und Körperverletzungsdelikte einschließlich massiver, das Leben gefährdender Gewalttaten aus. Es ist auch damit zu rechnen, dass sich die Gefahr jederzeit, insbesondere alsbald nach einer Haftentlassung verwirklicht. [...]