VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 17.01.2018 - 6 L 322/16.A - Asylmagazin 5/2018, S. 164 ff. - asyl.net: M25887
https://www.asyl.net/rsdb/M25887
Leitsatz:

Keine offensichtlich unbegründet-Ablehnung für Asylsuchende aus Somalia, da Anspruch auf subsidiären Schutz gegeben sein kann:

1. Keine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, da wegen der hohen Gefahrendichte infolge des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Mogadischu zumindest ein Anspruch auf subsidiären Schutz bestehen kann.

2. Es obliegt nicht der antragstellenden Person, diese Umstände darzulegen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes sich schon allein aus der dem Bundesamt bekannten Sicherheitslage im Herkunftsland ergeben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Mogadischu, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, offensichtlich unbegründet, Suspensiveffekt, erhebliche individuelle Gefahr, Mitwirkungspflicht, Darlegungslast,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 30, AsylG § 30 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

11 Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Offensichtlichkeitsentscheidung bestehen hier jedenfalls insoweit, als das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der subsidiären Schutzberechtigung verneint hat. Der Ansatz des Bundesamtes, die Antragstellerin habe ihren Asylantrag unentschuldigt nicht begründet und damit auch nicht das Drohen eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG glaubhaft gemacht, verfängt insoweit nicht, als ganz Überwiegendes dafür spricht, dass die subsidiäre Schutzberechtigung der Antragstellerin hier schon aus der Sicherheitslage in Mogadischu folgt und es auf einen individuellen Vortrag der Antragstellerin diesbezüglich deshalb nicht ankommt.

12 Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gilt als ernsthafter Schaden im Sinne der Regelung u.a. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen ist hier auszugehen.

13 In Mogadischu – das nicht nur deshalb Zielort der Rückführung der Antragstellerin wäre, weil sie von dort stammt, sondern weil Rückführungen aus Deutschland ausschließlich dorthin erfolgen können und aufgrund der Gesamtsituation in Somalia nicht davon ausgegangen werden kann, dass zurückkehrende Flüchtlinge sich von Mogadischu aus umgehend in ihre Heimatregionen begeben können (vgl. Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 46 ff.; Verwaltungsgericht Magdeburg, Urteil vom 6. April 2017 – 8 A 153/16 -, Rn. 24 f.) - herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.

14 Vom Vorliegen eines solchen ist auszugehen, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinander treffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grades an Gewalt ist (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. November 2017 – 20 ZB 17.31538 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Erstreckt sich – wie im Falle des faktisch dreigeteilten Somalias – der Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet, ist Bezugspunkt der Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort im Falle einer Rückkehr der betroffenen Person (vgl. Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Juli 2017 – 10 K 1871/14.A -, juris Rn. 39).

15 Somalia gilt als einer der instabilsten Staaten weltweit, eine flächendeckende effektive Staatsgewalt existiert nicht. In Süd- und Zentralsomalia mit der Hauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg. Die Al-Shabaab-Miliz verübt in der somalischen Bundeshauptstadt nicht nur nach wie vor Attentate auf bestimmte Objekte und Personen, bei denen auch Unbeteiligte verletzt oder gar getötet werden. Vielmehr finden auch direkte Kampfhandlungen zwischen den somalischen Streitkräften, unterstützt von der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM, und Al-Shabaab statt. Al-Shabaab vollzieht, nachdem sie soweit aus Mogadischu vertrieben worden ist, dass sie dort keine Gebiete mehr kontrolliert, nunmehr eine asymmetrische Kriegsführung, die insbesondere gezielte Attentate, den Einsatz von unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen und überfallartige Angriffe (sog. "hit and run") umfasst. Im Durchschnitt kommt es fast jeden Tag zu sicherheitsrelevanten Zwischenfällen, von denen nahezu das gesamte Stadtgebiet betroffen ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia (Stand November 2016) vom 1. Januar 2017, Seite 5; Amnesty International, Report 2017 Somalia, Seite 1; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. November 2017 – 20 ZB 17.31538 -, juris Rn. 5; Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 56; Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Juli 2017 – 10 K 1871/14.A -, juris Rn. 77 ff.; Verwaltungsgericht Darmstadt, Urteil vom 18. Mai 2016 – 3 K 977/14.DA.A -, juris Rn. 30 ff.).

16 Von diesem Konflikt geht für die Antragstellerin im Falle ihrer Rückkehr dorthin nach Überzeugung der Kammer auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.

17 Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist, stellen regelmäßig keine individuelle Bedrohung dar. Daher genügt es auch nicht, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung führt. Erreicht der Grad willkürlicher Gewalt im Rahmen des Konfliktes aber ein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass praktisch jede Zivilperson bei ihrer Rückkehr in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in dem Gebiet Gefahr liefe, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, verdichtet sich die allgemeine Gefahr unabhängig von individuellen gefahrerhöhenden Umständen zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung (vgl. Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 69; Verwaltungsgericht Magdeburg, Urteil vom 6. April 2017 – 8 A 153/16 -, juris Rn. 23 jeweils m.w.N.).

18 Eine solche Gefahrendichte ist für Mogadischu gegeben (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Magdeburg, Urteil vom 6. April 2017 – 8 A 153/16 -, juris Rn. 25; Verwaltungsgericht Darmstadt, Urteil vom 18. Mai 2016 – 3 K 977/14.DA.A -, juris Rn. 37; Verwaltungsgericht Potsdam, Gerichtsbescheid vom 27. Dezember 2016 – VG 6 K 1114/14.A -, Seite 3 EA).

19 Allerdings ist die vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung geforderte Bewertung der Gefahrendichte aufgrund einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos durch Gegenüberstellung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte dort von den Konfliktparteien gegen Zivilpersonen verübter willkürlicher Gewalt für Somalia unmöglich, da es aufgrund der mangelhaften Auskunftslage sowohl an gesicherten Einwohnerzahlen als auch an belastbaren Opferzahlen fehlt (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. Januar 2017 – 20 ZB 16.30685 -, juris Rn. 2; Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 79; Verwaltungsgericht Darmstadt, Urteil vom 18. Mai 2016 – 3 K 977/14.DA.A -, juris Rn. 37 f.). Im Rahmen der deshalb vorliegend gebotenen wertenden Betrachtungsweise ist einzustellen, dass die Sicherheits - lage in Mogadischu nach wie vor prekär und von zahlreichen, nicht vorhersehbaren, nicht kalkulierbaren Akten willkürlicher Gewalt geprägt ist, denen die Zivilbevölkerung weitgehend schutzlos ausgesetzt ist. Wirksame Möglichkeiten der Vorwarnung oder Verhinderung existieren ersichtlich nicht, wie anschaulich etwa die Anschlagserie vom Oktober 2017 zeigt, als nur knapp zwei Wochen nach dem bislang schwersten Terroranschlag in der Geschichte Somalias, der mehr als 500 Todesopfer und ca. 300 Verletzte forderte, erneut zwei Autobomben im Stadtgebiet explodierten und über 25 Menschen töteten und mehr als 30 weitere verletzten (vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/somalia-zahl-der-toten-nach-anschlag-in-mogadischu-steigtweiter (Bericht vom 16. Oktober 2017 "Terroranschlag in Somalia – Zahl der Toten steigt weiter"); www.tagesschau.de/ausland/somalia-mogadischu-anschlag-101 (Bericht vom 29. Oktober 2017 "Erneut tödlicher Anschlag mit Autobomben"); www.reuters.com/article/us-somalia-blast-toll/death-toll-from-somaliatruck-bomb (Bericht vom 30. November 2017 "Death toll from Somalia truck bomb in October now at 512: probe committee").

20 Insofern vermag es nicht zu überzeugen, eine ernsthafte individuelle Bedrohung nur für Personen anzunehmen, die aufgrund der Zielrichtung der terroristischen Anschläge zu sog. Risikogruppen gehören und deshalb ein erhöhtes Gefährdungspotential aufweisen sollen, wie etwa Angehörige der Sicherheitskräfte und regierungsnahe Politiker, Regierungs- und Verwaltungsangestellte, Richter, Mitarbeiter von UN-Organisationen sowie von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen einschließlich Mitarbeiter humanitärer Organisationen und Angehörige diplomatischer Missionen, aber auch Akteure der Zivilgesellschaft, Clanälteste, Journalisten oder Geschäftsleute (vgl. so aber Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 83; Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Juli 2017 – 10 K 1871/14.A -, juris Rn. 87; Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 17. Februar 2017 – 7 K 3281/16.A -, juris Rn. 67). Denn abgesehen davon, dass jedenfalls nicht derart zielgerichtete Kampfhandlungen wie etwa Anschläge mit Handgranaten oder Beschuss mit Artillerie- und Mörsergranaten gerade auch die Zivilbevölkerung treffen, gehört es zum Wesen von – insbesondere durch Explosionen herbeigeführten – Terroranschlägen, dass sie nicht nur das anvisierte Opfer, sondern gleichermaßen regelmäßig auch in der Nähe sich aufhaltende Unbeteiligte treffen. Diese zivilen Opfer nehmen Terroristen regelmäßig in Kauf, was auch für die Al-Shabaab-Miliz gilt (vgl. Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 20. Juni 2017 – 14a K 7056/16.A -, juris Rn. 56; Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 17. Februar 2017 – 7 K 3281/16.A -, juris Rn. 65).

21 Das dementsprechend für die Zivilbevölkerung Mogadischus bestehende beachtliche Risiko, jederzeit "zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort" zu sein, beschränkt die Gefahrensituation der Menschen nicht (so aber offensichtlich Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Juli 2017 – 10 K 1871/14.A -, juris Rn. 130), sondern definiert sie insbesondere im Hinblick auf ihre hohe Relevanz und ihre Unvorhersehbarkeit vielmehr im Sinne einer ernsthaften individuellen Bedrohung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Potsdam, Urteil vom 11. Dezember 2015 – VG 6 K 1733/14.A -, Seite 12 UA). Die Annahme, dieses Risiko könne gemindert werden, indem Zivilpersonen Gebiete und Einrichtungen meiden, die bevorzugt von Al-Shabaab angegriffen werden (vgl. so Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Juli 2017 – 10 K 1871/14.A -, juris Rn. 135), erscheint zumindest angesichts der Tatsache lebensfremd, dass die von der Miliz anvisierten Örtlichkeiten nicht etwa nur militärische oder Regierungseinrichtungen betreffen, sondern bevorzugt Hotels, Cafés, am Strand gelegene Restaurants, Märkte und Straßenkreuzungen im gesamten Stadtgebiet (vgl. beispielhaft Verwaltungsgericht Magdeburg, Urteil vom 6. April 2017 – 8 A 153/16 -, juris Rn. 14; .m.mainpost.de/ueberregional/politik/brennpunkt/Viele-Tote-bei-Anschlag-auf-zweirestaurants-in-Mogadischu (Bericht vom 15. Juni 2017 "Viele Tote bei Anschlag auf zwei Restaurants in Mogadischu";www.spiegel.de/politik/ausland/somalia-zahl-der-toten-nach-anschlag-in-mogadischu-steigtweiter (Bericht vom 16. Oktober 2017 "Terroranschlag in Somalia – Zahl der Toten steigt weiter"). [...]