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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 21.11.2017 - 1 C 42.16 - Asylmagazin 4/2018, S. 137 f. - asyl.net: M25881
https://www.asyl.net/rsdb/M25881
Leitsatz:

Gerichtliche Aufklärungspflicht bei der Frage, ob in einem anderen EU-Staat bereits Schutz gewährt wurde:

1. Beabsichtigt das Gericht, einen Asylantrag wegen Schutzzuerkennung in einem anderen EU-Staat als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abzulehnen, muss zuvor geklärt werden, ob die betroffene Person dort tatsächlich einen Schutzstatus hat.

2. Hierfür reicht die mündliche Auskunft der Liaisonbeamtin (hier: in Italien) nicht aus. Vielmehr hat das Gericht unter Mitwirkung der Beteiligten eine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung. Hierfür können auch andere als die in der Dublin-VO vorgesehenen Quellen und Wege genutzt werden.

3. Solange nicht aufgrund von Erfahrung und Auskünften feststeht, dass bestimmte Aufklärungswege ungeeignet sind, sind diese im Rahmen der Amtsaufklärung zu beschreiten und drängen sich auf.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, subsidiärer Schutz, Unzulässigkeit, Verfahrensfehler, Heilung, Schutzstatus, Anhörung, Drittstaatenregelung, Revision, Sachaufklärungspflicht, Amtsermittlung, Untersuchungsgrundsatz,
Normen: VwGO § 144 Abs. 3 Nr. 2, VwGO § 137 Abs. 1, VwGO § 86, AsylG § 29 Abs. 2 S. 1, VwGO § 46, VwGO § 144 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1, VwGO § 108,
Auszüge:

[...]

20 1.2 Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als nicht erfüllt angesehen, weil nach seiner Überzeugung nicht feststehe, dass dem Kläger in Italien subsidiärer Schutz erteilt worden ist. Diese Entscheidung beruht auf einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 und 2 VwGO).

21 121 Soweit das Berufungsgericht die vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse dahin gewürdigt hat, dass auf dieser Grundlage die Gewährung subsidiären Schutzes in Italien nicht zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden könne, ist die tatrichterliche Überzeugungsbildung (vgl. § 108 VwGO) revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu Recht allein das Bestreiten von anderweitiger Schutzgewähr nicht ausreichen lassen. Er hat seine Zweifel an der Richtigkeit der von der Liaisonbeamtin erteilten, auf mündlicher Mitteilung italienischer Stellen beruhenden Auskunft vor allem damit begründet, dass die Richtigkeit der Angabe der Liaisonbeamtin von dem Kläger bestritten worden sei und der nur auf "Hörensagen" beruhenden Mitteilung der Liaisonbeamtin per se Ungenauigkeiten und Fehlerquellen innewohnten. Soweit das Berufungsgericht allerdings darüber hinaus - wie es in Randnummer 42 des angegriffenen Urteils anklingt - positiv hat feststellen wollen, dass der Kläger keinen subsidiären Schutz in Italien erhalten hat, liegt ein materieller Rechtsfehler vor, weil die Überzeugungsbildung (§ 108 VwGO) des Gerichts in diesem Fall aus den nachfolgend dargelegten Gründen auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage beruhte.

22 1.2.2 Die Beklagte macht zu Recht mit der Verfahrensrüge geltend, dass die Vorinstanz die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung nicht als rechtswidrig hätte aufheben dürfen, ohne zuvor weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts zu ergreifen.

23 Das Berufungsgericht hat von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung im Wesentlichen mit der Begründung abgesehen, die Dublin II-Verordnung sehe mit dem sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin II-VO einen speziellen Aufklärungsweg vor, der bestimmten, der Kommission benannten Behörden vorbehalten sei. In Deutschland seien hierzu nur das Bundesamt und das Bundespolizeipräsidium berechtigt. Sei eine solche Info-Request-Anfrage vom Bundesamt an die italienischen Behörden gestellt worden und unbeantwortet geblieben, gehe dies zu Lasten der Beklagten. Das Bundesamt habe im vorliegenden Fall aufgrund der ihm bekannten Praxis der italienischen Behörden, auf Anfragen nach Abschluss des "Dublin-Verfahrens" nicht mehr zu antworten, von einer Anfrage abgesehen. Dies sei nachvollziehbar, habe allerdings aufgrund nicht ausreichender Informationen über eine etwaige Asylantragstellung in Italien bzw. den dort gewährten Schutzstatus zur Folge, dass davon auszugehen sei, dass der Kläger keinen subsidiären europarechtlichen Schutz in Italien erhalten habe. Damit ist der Verwaltungsgerichtshof den sich aus § 86 Abs. 1 VwGO ergebenden Pflichten schon deshalb nicht nachgekommen, weil sich hier eine weitere Sachverhaltsaufklärung aufgedrängt hätte.

24 1.2.2.1 Ein Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 - juris Rn. 2). Eine sachgerechte Handhabung dieses Grundsatzes hat zwar unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 - 9 CN 1.01 - BVerwGE 116, 188 <196>). Dies enthebt die Tatsachengerichte aber nicht von der Verpflichtung, hinreichend konkret dargelegten Einwänden eines Beteiligten nachzugehen und den Sachverhalt - gegebenenfalls auch unter Mitwirkung der Beteiligten - weiter aufzuklären, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 1983 - 8 C 76.80 - Buchholz 310 § 98 VwGO Rn. 21). Allein der Umstand, dass der Erfolg weiterer Ermittlungsmaßnahmen von der Mitwirkung ausländischer Behörden abhängt, begründet nach der Rechtsprechung des Senats für sich noch keine Unzumutbarkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 - juris Rn. 3 f.).

25 1.2.2.2 Es ist nicht erkennbar, weshalb der in Art. 21 Dublin II-VO vorgesehene Datenaustausch zwischen bestimmten Behörden verschiedener Mitgliedstaaten hier andersgeartete Aufklärungsmaßnahmen ausschließen sollte. Eine derartige "Sperrwirkung" kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen für ein Auskunftsersuchen nach Art. 21 Dublin II-VO vorliegend jedenfalls nicht mehr gegeben waren. [...)

28 1.2.2.3 Auch wenn es nach den vorstehenden Ausführungen an einer konkreten Rechtsgrundlage für eine Abfrage der benötigten Informationen bei den italienischen Behörden fehlen dürfte, rechtfertigt dies nicht von vornherein den Schluss, diese seien auch außerhalb einer solchen lnfo-Request-Anfrage und unter gehöriger Mitwirkung der Beteiligten durch keine deutsche Stelle zu erlangen. Vielmehr kommt in Betracht, dem Bundesamt aufzugeben, über die Liaisonbeamtin in Italien bei der zuständigen italienischen Behörde eine schriftliche Bestätigung der bisher nur mündlich erteilten Auskunft zu erwirken. Sollte eine schriftliche Bestätigung nicht zu erhalten sein, wäre zumindest eine nähere Erläuterung der Liaisonbeamtin angezeigt, durch wen und unter weichen näheren Umständen ihr eine nur mündlich erteilte Auskunft zur Kenntnis gelangt ist, damit auch deren Beweiswert konkret gewürdigt werden kann.

29 Ferner kann das Bundespolizeipräsidium, das regelmäßig auch bei Rückführungen von Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, eingeschaltet ist, um eine entsprechende Anfrage gebeten werden.

30 Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO ist auch der Kläger bei der Aufklärung des Sachverhalts heranzuziehen. Es obliegt ihm im vorliegenden Fall zunächst, alle asyl- und aufenthaltsrelevanten Unterlagen vorzulegen, die er in Italien erhalten hat (insbesondere den Aufenthaltstitel und den italienischen Fremdenpass). Soweit er hierzu nicht imstande ist oder diese Unterlagen keinen hinreichenden Aufschluss über die hier zu klärende Frage geben, hat er auch sonst alles ihm Zumutbare zu unternehmen, um weitere Aufklärung zu schaffen oder zu ermöglichen. Insbesondere kommt in Betracht, ihm aufzugeben, einen Antrag nach Art. 21 Abs. 9 Dublin II-VO zu stellen. Nach dieser Vorschrift hat ein Asylbewerber das Recht, sich auf Antrag die über seine Person erfassten Daten mitteilen zu lassen. Um zu gewährleisten, dass der Kläger dieser Obliegenheit tatsächlich nachkommt und eine Antwort der italienischen Behörden in das vorliegende Verfahren auch eingeführt wird, kann ihm aufgegeben werden, den Antrag über das Bundesamt bzw. die Liaisonbeamtin in Italien, der eine entsprechende Vollmacht erteilt werden könnte, zu stellen, oder einen vergleichbaren Weg zu beschreiten, der die Erfüllung der Obliegenheit nachprüfbar sicherstellt. Soweit ein Beteiligter ihm abverlangten Mitwirkungshandlungen nicht nachkommt, wäre eine solche Weigerung bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.

31 Als letztes Mittel ist schließlich an eine Anfrage bei den italienischen Behörden über das Auswärtige Amt oder durch den Verwaltungsgerichtshof selbst zu denken.

32 Dass alle diese Wege nicht zu einem Erkenntnisgewinn führen werden, hat das Berufungsgericht nicht positiv festgestellt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Solange nicht aufgrund entsprechender Erfahrungen oder Auskünfte die generelle Nichteignung eines der genannten Aufklärungswege feststeht, sind diese im Rahmen der Amtsermittlung zu beschreiten und drängen sich auf. Vor diesem Hintergrund ist auch die Ablehnung des vom Bundesamt gestellten Beweisantrags als unsubstantiiert zu beanstanden; sie findet im Prozessrecht keine Stütze. Eine Anfrage über das Auswärtige Amt ist nach den obigen Ausführungen auch kein unzulässiges Beweismittel.