VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 - asyl.net: M25869
https://www.asyl.net/rsdb/M25869
Leitsatz:

[Abschiebungsverbot für Familie mit 10jährigem Kind:]

1. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen schlechter, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründender humanitärer Bedingungen im Heimatland des Ausländers scheidet aus, wenn diese nicht einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG zuzurechnen sind.

2. Schlechte humanitäre Bedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und infolgedessen zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen. Dies ist bei der Rückkehr von Familien mit jüngeren Kindern unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen - soweit nicht besondere begünstigende Faktoren vorliegen - der Fall.

(Amtliche Leitsätze; vorliegendes Verfahren betrifft Mutter; Vater und Sohn wurde im Parallelverfahren ein Abschiebungsverbot zugesprochen)

Schlagwörter: Afghanistan, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Kinder, subsidiärer Schutz, Kabul, Akteur, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Gefahrendichte, Existenzminimum, Familienangehörige, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, humanitäre Verhältnisse, medizinische Versorgung, faktische Iraner, Familie, Iran, Entwurzelung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. [...]

Es fehlt - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Klägerin Ziffer 1 infolge willkürlicher Gewalt. Denn für die Provinz Kabul lässt sich keine allgemeine Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen feststellen, die sich in der Person der Klägerin so verdichtet, dass diese für sie eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt (b)). [...]

Für die Klägerin Ziffer 1 liegt allerdings ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor. [...]

h) Die Situation von Familien im Besonderen

Von den prekären Verhältnissen sind Familien mit Kindern besonders betroffen, da sich sowohl für die Frauen als auch für (jüngere) Kinder die allgemeinen Probleme in verstärktem Maße auswirken und außerdem weitere Risiken hinzukommen. [...]

aa) Familien sind von der prekären Situation auf dem Arbeitsmarkt besonders betroffen. Die meisten zurückkehrenden oder auch intern vertriebenen Familien hängen von einem einzelnen Ernährer - typischerweise dem männlichen Oberhaupt des Haushalts - ab, wobei dieser meist nur in stundenweiser Beschäftigung, oft in körperlich harter Arbeit - etwa als Träger auf dem örtlichen Markt oder als Bauarbeiter - tätig sein kann. [...]

bb) Auch die schlechte Versorgungslage - u.a. betreffend Ernährung und Unterkunft - trifft Familien in besonderem Maße. [...]

cc) Familien leiden zudem unter der schlechten Sicherheitslage. Diese ist in die allgemeine Beurteilung und Bewertung mit einzubeziehen, auch wenn eine Gefahrendichte, wie sie im Rahmen des subsidiären Schutzes erforderlich ist, nicht festzustellen ist. So sind Frauen und Kinder allgemein von den Auseinandersetzungen der verschiedenen Konfliktparteien betroffen, sie sehen sich aber auch darüber hinaus weiteren Gefahren ausgesetzt. [...]